Die Laute (German Edition)
ist in Alis Bibliothek heruntergegangen und hat lange gesucht. Schließlich findet er ihn, Nagar Juna, das Buch mit seinen Stücken, einen Band mit Briefen und einen mit Gedichten. Er versteht nicht eine Zeile von den Gedichten. Im Vorwort liest er, dass Naga Juna taub war wie er selbst und, obwohl er in Indien geboren wurde, viele Jahre in Aden gelebt hat. Deswegen also hat sein Lehrer ihm das Buch gegeben!, denkt er. Aber wenn man so viel miteinander teilt, müsste man doch mehr voneinander verstehen können!
Auch in Amirs Gedicht ist ihm vieles ein Rätsel geblieben. Doch hat er gespürt, dass es so etwas wie eine Botschaft enthält. Amir schrieb sein Gedicht, weil er etwas zu sagen hatte, was er nur in diesen Worten sagen konnte, glaubt er. Und ich schreibe mein erstes Gedicht allein aus Neid und Ehrgeiz, weil ich es nicht ertrage, dass jemand besser ist als ich. Kein Wunder, dass ich keine einzige Zeile zustande bekomme. Ich bin leer. Ich habe nichts zu sagen. Meine Hände sind verkrüppelt, meine Zunge ist taub, der Ball springt von meiner Fußspitze, wohin er will, die Ersatzspieler lächeln und warten, der Schiedsrichter pfeift, ich höre ihn nicht, auf dem Aschenplatz waren es nur Schreie, Pfiffe, Gefühlswellen, nie Worte, nie Gesang, nicht einmal Tanz.
»Ich bring sie dir morgen, Amir. Aber nicht zur Schule. Lass uns am Strand treffen.«
»Versprochen?«
»Versprochen!«
Das einfachste wäre, einfach ein Gedicht von Nagar Juna abzuschreiben. Amir würde es doch gar nicht merken. Aber er selbst wüsste es natürlich. Es wäre kein echter Sieg.
Da alles leer ist, kann alles sein,
liest Asis. Endlich ein Satz, mit dem er etwas anfangen kann. Aber diese Art Sätze will er eigentlich nicht hören. Sie klingen immer noch zu zuversichtlich, zu hoffnungsvoll. Er hingegen weiß, was Leere ist. Er hat erfahren, wie sich alles in ihr zersetzt wie in einem Säurebad, eine Leere voller Satellitenschrott.
Am Anfang ist die Möglichkeit, eine
Harmonie im leeren Raum, bis ein
Missklang die Welt hervorbringt
Diese Verse entsprechen schon eher seinen eigenen Empfindungen. Ja, die Welt ist aus einem Missklang geboren. Der Musiker erhängt sich in den Saiten seines Instruments, und die Welt wird sich ihrer selbst erst bewusst, wenn die Musik verstummt ist.
Wenn sein Gedicht wirklich das ausdrücken soll, was er fühlt, denkt Asis, dürfte es eigentlich kein Gedicht sein, keinen Rhythmus, keine Harmonie kennen, sondern müsste reiner Missklang sein.
Am Nachmittag geht er nicht an den Strand.
Amir verliert kein Wort über Asis’ gebrochenes Versprechen. Aber er erwähnt auch nie mehr seine eigenen Gedichte. Es scheint, als hätte Asis den Nachmittag auf dem Dach nur geträumt.
Aber sein Kopf weiß es natürlich besser. Er hat damit geprahlt, ein Dichter zu sein. Und aus seinen Fußballerjahren weiß er noch sehr gut, was von Angebern zu halten ist. Wehe, wenn sie ihre Prahlerei nicht wenigstens um das Doppelte übertrumpfen! Jede Niederlage bleibt an ihnen haften wie Krähendreck bis zum Lebensende.
Hier also beginnt die Ratlosigkeit, die Sprachlosigkeit der
Welt, schreibt er
Apfel- und Orangenbäume, Gebot der reifen Früchte, die
den nackten Fels bewohnen, im wespengelben Licht
Denn hier in Aden, so behaupten wenigstens die Adener,
stand am Anfang aller Zeiten des Menschen Paradies, der
Garten
Eden
Und der Himmel war ein schwarzer Flügel, und die Stille
schrie mit schwarzer Zunge
Heute blühen weiße Rah- und Gaffelsegel, fährt er fort,
Matrosennot und -leichtigkeit
In einer Stille, die aufbraust und schäumt
Stadt ohne Winter
Tag mit rauchgeschwärzten Fingernägeln
Gefühlsstaub
Stimmen fallen wie Kupfermünzen aus den Fenstern
Frauen, Gefangene ihrer kühlen Haut
Diese Augenstadt ist viel zu alt für Diebe
Das Radfahren sieht leicht aus. Jeder Idiot fährt Rad. Aber die meisten haben es kurz nach dem Laufen und vor dem Schwimmen gelernt. Für sie sind Räder nichts anderes als aufgepumpte Füße mit zarten Speichen statt Zehen oder rollenden Schwimmflossen
.
Aber in meinem Alter geht man mit dem Kopf an die Sache heran. Und schon ist das Radfahren ein Riesenproblem. Neigt sich das Rad nach einer Seite, neigt sich der Kopf zur selben Seite, eine verständliche Vorsichtsmaßnahme, sich im Fall weiterer Neigungen und eines dann unvermeidlichen Sturzes rechtzeitig abzufangen. Aber jeder Radleridiotenkörper weiß, dass er sich in die entgegengesetzte Richtung zu lehnen hat, um das
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