Die Laute (German Edition)
Gleichgewicht zu halten
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Balance, ein Wort, das so leicht zu gewinnen scheint, aber so schwer zu halten ist. Der Kopf ist dabei nur hinderlich
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Es ist ein wenig wie Polnischlernen. Wer immer nur auf die Gemeinheiten der Grammatik achtet, lernt es nie. Man muss sich einfach in diese weichen Konsonanten hineinstürzen, ihrer Sanftmut vertrauen und sich von ihnen umarmen lassen
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Was in der Sprache so selbstverständlich scheint, kann beim Radfahren allerdings schnell in einer Katastrophe enden. Ich denke an das Aussteigen. Beim Aufsteigen hat Rafał mir geholfen. Ein sanfter Stoß von ihm hat das Rad in Bewegung gesetzt, das melancholische Gefälle des Salwator-Hügels beschleunigt es nun. Bevor ich mich mit dem Problem des Aussteigens näher beschäftige, sollte ich erst mal die Notwendigkeit der Entschleunigung, im fahrradtechnischen Idiotenjargon also das Abbremsen ins Auge fassen oder, präziser, in die Hand nehmen!
Da ist zum Beispiel diese Baustelle, über die ich mir beim Aufstieg mit Rafał zum Erlöserfriedhof keinerlei Gedanken gemacht habe. Sie engt die schmale Allee noch einmal um die Hälfte ein. Ein Engpass. Ein Nadelöhr. Die Friedhofsbesucher stapfen apathisch ihren noch gleichgültigeren Angehörigen entgegen. Die Bauarbeiter sitzen müßig hinter den Absperrböcken und sehen mit regungslosen Mienen zu, wie ich auf sie zurase, schnurstracks in ihre pausierende Gruppe hinein. Im engen Durchlass unterdessen eine alte Frau mit zwei kleinen Kindern, eine Großmutter mit ihren Enkeln, denke ich noch, obwohl zum Denken keine Zeit ist, lacht mir entgegen, die Alte, ohne auch nur einen Schritt zur Seite zu gehen, bremsen, Gleichgewicht halten, im Sattel bleiben, du kannst jetzt nicht aussteigen! abschätzen, ob die rotweißlackierten Prellböcke oder die knochige Frau mit den Kindern meiner Amokfahrt den geringeren Widerstand entgegensetzen. Würde ich an Gott glauben, würde ich nun beten. Aber habe mit Gott nur das mürrische Wesen gemeinsam
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Die Bauarbeiter trinken weiter ihr Vormittagsbier, grinsen zwischen den Zügen, zwinkern mir zu, die alte Frau lächelt großmütterlich, die Enkel zerren an ihren welken Händen, der Knabe in die eine, die Baugrubenrichtung, das Mädchen in Richtung des schmalen Bürgersteigs
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Buchstäblich in allerletzter Sekunde lässt der Junge die Hand der Großmutter los, und die alte Dame und das kleine Mädchen schnellen mit einem anmutigen en dehors gegen einen rostigen Vorgartenzaun
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Und plötzlich spüre ich das Glockengeläut, das mir aus einem der drei Türme des Prämonstratenserinnenklosters entgegenbebt. Hochamt. Emmaustag. Ist es das Wetter, eine besonders schalltragende Luft, oder das von knorrigen Baumwurzeln aufgebrochene Kopfsteinpflaster, das die Erschütterungen zu mir trägt?
Glocken läuten oft in Krakau, eigentlich ununterbrochen, selbst in Nowa Huta, wo es eigentlich keine Glocken geben dürfte. Aber ich spüre sie nur selten, außer der Zwölf-Tonnen-Sigismundglocke mit ihrem Dreihundert-Kilo-Klöppel im Turm der Kathedrale, der auch ein Gehörloser nicht entkommt
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Doch jetzt bringen bereits die Klosterglocken die Erde unter meinen Pneus so sehr zum Schwingen, dass sie jeden Gedanken zu Staub zerbröseln lassen. An was habe ich gerade gedacht? Ich habe gedacht, dass Jugend nicht mehr ist als ein Trugbild der Stärke
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Ein Hörender beginnt seinen Satz mit dem Subjekt, dann folgt das Verb und am Schluss das Objekt, das Ziel, die Idee:
Ich gehe heute Abend ins Kino.
In der Gebärdensprache kommt zuerst die Idee, der Hauptgedanke, dann folgen die Attribute und Details.
Im Übrigen hat jeder seine eigene Art sich auszudrücken: Umgangssprache, Hochsprache, zurückhaltend, nüchtern, leidenschaftlich …
Es gibt nichts Unaussprechbare in der Gebärdensprache, keine Beschönigungen, Andeutungen, Tabus. Die Gesten sind direkt, manchmal grausam und unverschämt direkt. Für Hörende ist es, als würde man ständig mit dem Finger auf die Dinge weisen, selbst auf die makelhaften, ja gerade auf die makelhaften.
»Mach das nicht, das gehört sich nicht!« gibt es unter Tauben nicht. Alles muss sichtbar sein, sonst wird man nicht verstanden. Die verstohlene, nur angedeutete Geste ist ein Teil der hörenden Welt.
Die Hörenden scheinen es zu ahnen, wenn sie Gehörlose bei ihren Gesprächen beobachten, diese Offenheit, diese Unverschämtheit, die sich nicht um Anstand und Schonung schert. Auch das mag für sie ein Grund sein, Taubstumme nicht
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