Die Laute (German Edition)
zur Nase hinauf. Und Amirs jüngster Bruder, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, trägt bereits eine Brille mit Gläsern so dick wie Billardkugeln.
»Und dein Vater?«, fragt Asis.
»Arbeitet noch«, erwidert Amir. »Er kommt erst heute Abend nach Hause.«
Nach dem Essen gehen sie aufs Dach. Es gibt hier keine Terrasse, es sei denn, man betrachtet ein geteertes Flachdach mit einem Dutzend Parabolantennen und zwei rostigen Wassertanks bereits als Dachterrasse. Sie setzen sich in den Schatten eines der leckenden Tanks. Ein leichter Wind ist zu spüren, zwar heiß wie aus einem Föhn, aber in der Wohnung ist es noch wärmer, weil es in keinem der Zimmer eine Klimaanlage oder auch nur einen Ventilator gibt.
Amir reicht Asis ein Blatt Papier. »Was ist das?« fragt Asis, denn es handelt sich um keine der üblichen Notizen für komplizierte Wörter oder Sätze, die sich nur schwer gebärden lassen.
»Ein Gedicht«, erklärt Amir. Die Geste für ›Gedicht‹ ist neu für Asis. Amir muss sie mehrmals wiederholen, bis Asis begreift.
»Seit wann schreibst du Gedichte?«, fragt Asis.
»Wenn du es nicht lesen willst, gib es mir zurück!«, entgegnet Amir.
Ein Gedicht! Wie kommt dieser nicht einmal Fünfzehnjährige dazu, Gedichte zu schreiben, ja Gedichte auch nur zu lesen! Niemals hätte Ali gewagt, ihm, Asis, einen Gedichtband aus seiner Bibliothek zu empfehlen, obwohl dort sicher auch Gedichtbände herumstehen.
Er faltet das Blatt auseinander und liest:
Kalte zementfarbene Haut unter der
Augustsonne dieser Plage des Himmels
Doch spar dir deine Tüte Mitleid
Du mit Fischköpfen versiegelter Mund
Der Bauch der Wörter ist silbern bauchoben
Treiben sie auf der Lache der Bedeutung
Die Hände hissen ihre schwarze Flagge
Werfen ihre Enterhaken aus und die Wellen
Begreifen dass man nicht ›Wellen‹ sagen darf
Ein seit langer Zeit nicht mehr empfundenes Gefühl steigt in Asis auf: Neid. Was glaubt dieser Junge, wer er ist? Hat nie einen großen Dichter, ja bis auf seine Schulbücher nie ein Buch gelesen und will nun selbst dichten! Leider fällt Asis kein großer Dichtername ein. Aber die ungeheuerliche Anmaßung seines Freundes bleibt bestehen. Muss man nicht als Dichter geboren sein? Über wie viele Wörter verfügt Amir, der in seinem Leben nie ein Wort gehört hat? Über welche mitteilenswerten Erfahrungen? Schlimmer noch: Auch wenn er seinen Neid mit Spott zu übertünchen versucht, muss Asis zugeben, dass es ein gutes Gedicht ist. Er versteht zwar den Sinn nicht ganz, aber spürt doch, dass es ihn gibt. Wieso Amir? Er, Asis, ist doch der Ältere, Erfahrenere und Belesenere. Er hat schon geliebt, hat mehr gelitten als andere, so kommt es ihm zumindest in diesem Augenblick vor. Er kennt den wahren Klang der Worte noch. Und die Töne in Asis, die unerhörten Melodien, sind nie verstummt. – Er fühlt ein Stechen in der Brust, wie früher auf dem Aschenplatz, wenn die gegnerische Mannschaft anscheinend uneinholbar vorne lag, einen schmerzhaften Ehrgeiz, einen Zorn, um keinen Preis verlieren zu dürfen, der gleichzeitig eine ungeheure Kraft war, ein Antrieb, alles zu geben, das Ruder herumzureißen und am Ende doch noch zu gewinnen.
»Nicht schlecht«, gebärdet er und faltet das Papier zusammen. »Morgen werde ich dir eines meiner Gedichte zeigen.«
Amir blickt seinen Freund ohne jedes Erstaunen an. »Habe mir schon gedacht, dass du auch Gedichte schreibst. Sonst hätte ich dir meines gar nicht zu zeigen gewagt.«
Asis nickt. Als er Amir das Blatt zurückgeben will, reißt eine Windböe es aus seiner Hand, trägt es in den zementfarbenen Nachmittagshimmel hinauf und lässt es dann im Windschatten der Häuser auf den Billardtisch in Amirs Straße niedersegeln. Einer der jungen Spieler klaubt das Blatt vom löchrigen Filz und liest das Geschriebene offenbar laut vor. Die anderen Männer wirken gelangweilt. Ohne diesen offenkundigen Blödsinn bis zu Ende vorzutragen, knüllt der Vorleser das Papier zusammen und wirft es in den Rinnstein.
Asis blickt seinen Freund schuldbewusst an. Doch Amir zuckt nur mit den Achseln und zeigt auf seine Stirn: »Keine Angst, ich habe jedes Wort im Kopf!«
39
Während der Pause kommt Amir auf Asis zu und fragt ihn nach seinen Gedichten. Asis gibt vor, nicht daran gedacht zu haben. Aber am Abend und in der Nacht hat er an nichts anderes gedacht. Er hat eine Bleistiftspitze weichgekaut, doch das Blatt Papier ist weiß geblieben. Was ist das überhaupt, ein Gedicht? – Er
Weitere Kostenlose Bücher