Die Laute (German Edition)
nicht so genau zu sehen, oder das Ziel, das sie ihr Zuhause nennen.
Wenn es draußen sehr kalt ist oder regnet, wie jetzt im Herbst, rauchen meine Kollegen auf den Toiletten, jeder für sich, einige, während sie im Stehen pinkeln, falls Maciek, der ja nicht wirklich unser Vorarbeiter, sondern nur der Älteste, aber immerhin Nichtraucher ist, plötzlich hereinkommen sollte. Nur Maciek und ich besuchen die Toiletten ausschließlich, um zu pinkeln, alleine, niemals zusammen, und Maciek sicher doppelt so häufig wie ich, weil er im Lauf einer Nachtschicht mindestens vier Flaschen Bier leert.
Als ich dort vor dem Porzellanbecken stehe und noch gar nicht losgelegt habe, stellt sich ein Kollege neben mich, schwarzes gelocktes Haar wie ich, ein wenig älter und erst wenige Wochen bei UPS . Er zündet sich keine Zigarette an, sondern starrt in die gelbgrüne Schüssel, als habe er irgendeinen kleinen wertvollen Gegenstand darin verloren. Ich warte, dass er mit der Hand in den Abfluss greift, um einen goldenen Ring oder den Briefkastenschlüssel herauszufischen. Doch er rührt sich nicht.
Da ich nicht pinkeln kann, wenn ein Fremder so dicht neben mir steht, aber meine Blase zum Bersten voll ist, stehe ich ebenso regungslos da wie er und hoffe, dass er sein Geschäft, was immer es auch sein mag, so rasch wie möglich beendet und geht.
Ich werfe einen kurzen Blick auf meinen Nachbarn. Er hält die Lippen aufeinander gepresst, als wolle ihn jemand gewaltsam küssen. Dann dreht er sich langsam zu mir um, nicht nur den Kopf oder den Oberkörper, nein, sein rechter Fuß macht einen kleinen Schritt zurück, sein linker Fuß einen kleinen Schritt vorwärts, dann schaut er mich aus zusammengekniffenen Augen an, während die kalte Kachelwand noch von seinem Atem beschlagen ist und neonfunkelnde Tröpfchen an ihr herunterrollen, weinende Kacheln sozusagen. Und nun kann ich, sein braunschwarzes Schildchen ganz nah vor meinen Augen, auch endlich seinen Namen lesen, M URAT , doch bin ich mir nicht sicher, ob ich ihn mir jetzt schon merken soll, da er noch in seinem Probemonat ist. Aber die kommenden Ereignisse ersparen mir jedes weitere Nachgrübeln über diese Frage.
Es ist die Nacht vom 29. auf den 30. Oktober. Die Cargomaschine mit der Flugnummer UPS 17 aus Hongkong nimmt am frühen Abend des 29. auf ihrem Zwischenstopp in Dubai Pakete aus dem Jemen auf, Computerdrucker, deren Druckpatronen anstatt Tinte Plastiksprengstoff enthalten. Die Bomben erreichen um 22.56 Uhr Köln-Bonn, werden von unseren dortigen Kollegen umgeladen und nach Großbritannien weitertransportiert. Inzwischen haben die britischen Sicherheitsbehörden einen Tipp aus Saudi-Arabien erhalten und warten auf dem Flughafen von Nottingham bereits auf die explosive Ladung.
Als ich von der Toilette in die Packhalle zurückkehre, warten zwei Beamte der Flughafenpolizei auf mich. Meine Kollegen haben ihre Arbeit unterbrochen und starren mich an. Ich schaue an mir herunter und prüfe, ob ich möglicherweise vergessen habe, den Reißverschluss meines Overalls wieder zu schließen. Von den Ereignissen in Nottingham weiß ich natürlich noch nichts.
Einer der beiden Beamten bittet mich freundlich, ihm meinen Flughafenausweis auszuhändigen und dann unverzüglich Feierabend zu machen. Ich verstehe nicht. Es ist noch über eine Stunde bis zum Schichtende. Außerdem wüsste ich nicht, wie ich um diese Zeit von Balice nach Nowa Huta kommen sollte. Der Beamte macht mir, immer noch höflich, klar, dass ihn meine Transportprobleme nichts angingen, seine Anweisungen lauteten schlicht, mir vorerst jeden Zutritt zu sicherheitsrelevanten Bereichen des Flughafens zu verwehren. Ich begreife immer noch nicht, was hier gerade geschieht, ich verstehe nur, dass ich gehen soll, und zwar sofort. Noch denke ich, es wird sich schon aufklären, morgen, irgendeine Verwechslung, ein Missverständnis, ich bin doch immerhin schon mehr als vier Jahre hier beschäftigt, dann werden alle darüber lachen und noch monatelang ihre Witze darüber reißen. Also gehe ich.
Ich gehe zu Fuß durch das nächtliche Balice, dann die um diese Zeit kaum befahrene Olszenicka entlang, zwölf Kilometer bis zum Hauptbahnhof. Von dort fährt wenigstens stündlich ein Nachtbus nach Nowa Huta.
Ich gehe und denke plötzlich, wie es wohl ist zu sterben. Die meisten Menschen sterben im Bett. Beginnt es damit, dass einem der Atem stockt oder dass das Herz stehen bleibt? Beides stelle ich mir nicht sehr schmerzhaft vor. Wenn
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