Die Laute (German Edition)
überhaupt ein Netz weben?«
Es ist keine Wüste, es ist ein Sumpf. Asis hat das Gefühl, bis zur Hüfte in ihm festzustecken. Jeder Schritt ist eine Qual. Er kann weder gehen noch schwimmen. Plastikmüll, Autowracks, zerbrochenes Glas containerweise und ein Morast aus Schlachtabfällen. Aber es gibt kein Zurück. Er hat nur diese eine Nacht.
Nach dem Sumpf der Stacheldraht. Bei jeder Bewegung durchzuckt ihn ein scharfer schneidender Schmerz, ein Aufreißen der Fußsohlen und Handflächen, tiefe Schnitte ins Gesicht. Wälle von Stacheldrahtrollen mit rasiermesserscharfen Klingen, die er barfuß niedertreten oder mit nackten Händen aus dem Weg räumen muss. Dann wieder der bodenlose Sumpf, ein Gehen wie in Zeitlupe, jeder Schritt gegen ungreifbare Widerstände erkämpft.
Warum taucht er gerade jetzt auf, der junge somalische Kriegsflüchtling, der erste Mensch, dem er bei seiner Ankunft in Aden – wie lange ist das her? – begegnet ist, einen Kopf größer als er, athletisch, kraftvoll, vielleicht früher einmal ein ebenso leidenschaftlicher Sportler wie er selbst, der nun den Adenern den Müll von der Straße aufsammelt. Ihre Blicke treffen sich nur kurz, aber er sieht den gekränkten Stolz in den Augen, die Spuren der Verachtung und der Demütigung, die er täglich hier erfährt, die zerstörten Hoffnungen und die bittere Frage, ob er dafür geflohen ist und das eigene Leben aufs Spiel gesetzt hat.
Es ist keine Wüste und kein Sumpf, es ist eine Unterwelt. Ein menschen- und gottverlassener Ort. Selbst die Sterne blaken wie leere Augenhöhlen. Er rechnet damit, dass sie jeden Augenblick wie Schrotkörner auf ihn hinunterprasseln und seine Haut durchschlagen. Er stolpert durch eine Ödnis, die wirklich aus Staub geboren ist, der aber niemand je Leben eingehaucht hat. Er folgt schon lange nicht mehr den Radspuren, sondern ist davon überzeugt, sich auf den Rand der Welt zuzubewegen, eine Abbruchkante ins Nichts. Er hört, ja
hört
den Sand flüstern, die Stimmen der Toten. Sie sprechen leise. Nein, sie sprechen nicht, sie singen. In der fremden Sprache eines längst erloschenen Volkes. Ein Geruch nach Salbei und Weihrauch. Vereinzelt Todholz, Blauflechte und Schwarzmoos, Weiden für die Unterweltstiere, dann wieder kahle verbrannte Palmstämme, in den schwarzen Kronen zusammengerollt verkohlte Affen, sie alle singen in diesem flüsternden tonlosen Ton.
Er spürt, wie das Geröll ihm die Haut vom Fleisch zieht, wie er sie lose hinter sich herzerrt, ein Sufi, ein heiliger Narr, und wundert sich, dass er überhaupt noch geht und nicht längst gestürzt, abgestürzt ist. Aber trotz all der Dunkelheit in ihm und um ihn herum glimmt noch etwas, ein Funke, der nie erloschen ist, seit der Blitz ihn traf, ein Stückchen Klangkohle, ein schwelender Melodiescheit, der gerade so weit leuchtet, wie der Fuß für den nächsten Schritt zu setzen ist. Wie war noch mal sein Name?
Kleine geflügelte Wesen wecken ihn. Eine ihm unbekannte Insektenart. Sie stechen nicht, sondern kitzeln ihn nur und jucken ein wenig, wenn sie sich in den Körperöffnungen niederlassen. Vielleicht halten sie ihn bereits für tot und wollen nun ihren Nachwuchs in ihm ablegen. Er hätte nichts dagegen, den Larven einer anderen, weniger räuberischen Art als Nahrung zu dienen. Er bleibt noch einen Moment liegen und verharrt bei diesem ruhigen und tröstlichen Gedanken.
Dann öffnet er wieder die Augen. Die Sonne steht zwei Hände breit über dem Horizont. Vor ihm die Asphaltstraße zwischen Am Hadidah und Am Sawad, es gibt sonst keine andere im Umkreis von hundert Kilometern, still und verlassen. Aus beiden Richtungen ist kein einziges Fahrzeug zu sehen. Aber es ist noch früher Morgen, und die Straße endet ja in Am Hadidah, einem Dreihundertseelendorf. Hier verkehren nie mehr als vielleicht ein Dutzend Autos am Tag. Irgendwann wird schon eines kommen und ihn mitnehmen, in die eine oder andere Richtung.
60
Asis klopft kurz an die Tür und tritt dann ein. Überrascht bleibt er im Türrahmen stehen. Die Holzläden sind geöffnet, Licht durchflutet das Zimmer. Said steht, nur mit einem Handtuch um die Hüften bekleidet, vor der Wäschetruhe und nimmt ein sauberes Hemd heraus. Sein Haar glänzt nass, und auf der Brust und dem Rücken funkeln noch einige Wassertropfen. Er wirft das Hemd auf sein Bett, öffnet die Schublade seines Nachtschränkchens, nimmt einen Rasierspiegel und ein Fläschchen Haaröl heraus, gibt ein paar Tropfen Öl in seine Hände
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