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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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alte, kotverschmierte Zeitung, eine leere Fischdose, zwei Glasmurmeln und mehrere Nägel. Das ist schon mal kein schlechter Anfang, denkt er, sucht sich den größten Nagel heraus und macht sich gleich an die Arbeit.
    Er riecht ihn bereits, ehe er die Schritte spürt. Er kennt den Geruch, es ist keine heimische, sondern eine saudische Zigarettenmarke. Genauso hat es damals in Alis Arbeitszimmer gerochen.
    Er geht rasch von der Tür weg und hofft, dass von seinem vorsichtigen Kratzen und Schaben kein Laut nach draußen gedrungen ist. Den Nagel versteckt er unter dem Hosengürtel.
    Obwohl die Begegnung über ein Jahr her ist und nur wenige Augenblicke währte, erkennt Asis ihn gleich wieder. Die blassblaue Tätowierung wird er nicht mehr los, jene Schlange oder Schlinge, die ihm vom Brustbein hoch zur Kehle kriecht. Statt des blauen Overalls trägt er nun die traditionelle Kleidung der Kabilen dieser Region, einen knielangen Rock und ein von der Sonne ausgebleichtes Jackett.
    Auch der Fremde scheint ihn gleich wiederzuerkennen. Zwar bleibt seine Miene ausdruckslos, aber das kurze Aufblitzen in den Augen ist Asis nicht entgangen.
    Der Mann bleibt in der Tür stehen. In der einen Hand hält er seine brennende Zigarette, in der anderen eine Flasche Wasser. Eine Waffe trägt er nicht. Aber er sieht auch nicht aus, als würde er eine Waffe brauchen, um mit Asis fertig zu werden. – Er wirft Asis die Flasche Wasser zu und öffnet den Mund, als wolle er noch etwas sagen. Doch dann führt er seine Zigarette an die Lippen und nimmt einen tiefen Zug, dreht sich um und verriegelt die Tür.
    Warum hat der Dünnbärtige ihn hierher verschleppt? War es nur eine plötzliche Laune von ihm? Dann wird er jetzt wohl eine Menge Ärger bekommen. Und Asis zweifellos noch eine Menge mehr! Also zurück an die Arbeit. Er nimmt einen Schluck Wasser, dann kratzt er weiter den Mörtel rund um die Verankerung der Scharniere aus den Fugen. Das alles ist kein Spiel mehr, weiß er, nun ist es tödlicher Ernst. Alle seine Sinne sind angespannt und darauf konzentriert, so wenig Geräusche wie möglich zu machen und rechtzeitig wahrzunehmen, wenn sich jemand nähert.
    Bis zum Abend kommt niemand mehr. Will man ihn verhungern lassen? Andererseits ist er froh, dass man ihn in Ruhe lässt. Die Scharniere sind nun soweit gelockert, dass er sie ohne größere Mühe mit der Tür aus der Wand reißen kann.
    Die Wasserflasche ist leer. Er war zu gierig, das war unklug. Wer weiß, wann er wieder etwas zu trinken erhält. Er legt sich ins Stroh, schont seine Kräfte und wartet.
    Wird er in der Dunkelheit den Weg zurück zur Hauptstraße finden? So gut sein Orientierungssinn auch sein mag, nachts sieht die Welt anders aus. Wäre er ein Kind der Wüste, würde er sich mit dem Sternenhimmel auskennen und sich daran orientieren können. Nun hofft er, dass die Reifenspuren ihm den Weg weisen.
    Hier, gefangen in einem fensterlosen Raum, ist der Gehörsinn eigentlich unersetzlich. Wie sonst kann man über die Vorgänge außerhalb des Gefängnisses etwas mitbekommen? Ihm steht nur der schmale Ausschnitt zwischen den rissigen Holzbohlen zur Verfügung. Kein Lichtschein, keine Erschütterungen. Das muss nicht heißen, dass seine Entführer schlafen. Aber das Gelingen seiner Flucht hängt ohnehin vor allem von Glück und Zufall ab.
    Was wird er tun, wenn in keinem Fahrzeug der Schlüssel steckt? In Gangsterfilmen sieht es so einfach aus, einen Wagen allein mit den Zündkabeln zu starten. Aber er hat keine Ahnung, wie man das anstellt. In diesem Fall müsste er alle Wagen fahruntauglich machen, indem er zum Beispiel ihre Reifen zersticht oder Sand in die Benzintanks schüttet, und dann zu Fuß flüchten. Wie lange würde er für die vierzig Kilometer bis zur Hauptstraße brauchen? Mindestens die ganze Nacht. Wenn er sich nicht verläuft.
    Er seufzt und macht sich bereit. Mit dem Nagel löst er die Scharniere nun vollständig aus dem Mörtel, dann steckt er den Nagel ein und zieht die Tür an der Scharnierseite soweit zu sich, wie es der Holzriegel zulässt. Der so entstandene Spalt ist breit genug, dass Asis sich hindurchquetschen kann.
    Doch kaum hat er sich ins Freie gezwängt, trifft ihn ein harter Schlag am Hinterkopf. Er kann sich noch drehen und dem Angreifer zuwenden, ehe er auf die steinige Erde schlägt, und blickt direkt in das grinsende, mondbeschienene Gesicht Dünnbarts. Das Grinsen wirkt starr und leblos wie die Maske eines Clowns, denkt Asis, bevor ihn der

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