Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
Vom Netzwerk:
harte Gewehrkolben ein zweites Mal trifft, diesmal an seiner rechten Schläfe.

59
    Er hat das Gefühl, als stehe jemand auf seinem Kopf und versuche, seinen Schädel einzutreten. Die Zunge klebt ihm am Gaumen, er hat höllischen Durst. Er will die Augen öffnen, doch scheinen sie zubetoniert zu sein.
    Es ist der Geruch nach Scheiße, der ihm schließlich Gewissheit schafft, noch am Leben zu sein. Aber er hat keinen Zweifel, dass Dünnbart ihn umbringen wollte. Vielleicht sogar glaubt, ihn umgebracht zu haben. Aber da er noch denken kann, muss wenigstens dieser Teil von ihm noch funktionieren. Er gibt seinen Händen den Befehl, sich zu ballen, und hat den Eindruck, dass seine Finger ihm, wenn auch widerstrebend, gehorchen. Dann zwingt er sich erneut, die Augen zu öffnen, und blinzelt ins helle Tageslicht.
    Über ihn klafft das vertraute Loch in der Stalldecke, neben und womöglich auch unter ihm verrotten die zuvor so sorgfältig gemiedenen Kothaufen. Er versucht, sich aufzusetzen. Aber der Unhold mit den Stiefeln steht weiter auf seinem Kopf und will nicht weichen. Er spürt sein Gewicht, auch wenn er ihn nicht sieht. Er dreht den Kopf vorsichtig nach links und rechts. Nein, hier ist sonst niemand. Die Tür steht offen.
    Er schließt die Augen wieder. Mindestens eine Nacht muss er hier gelegen haben. Vielleicht auch länger. Er spürt keinen Hunger. Umso unerträglicher ist der Durst. Er wird jetzt aufstehen, durch die offene Tür gehen und nach etwas Trinkbarem suchen! – Er nimmt die Hände zur Hilfe, um seinen Kopf aus dem hartgestampften Lehmboden zu lösen und sich aufzusetzen. Dann betastet er sein Gesicht. Die rechte Seite, an der ihn der letzte Kolbenhieb traf, scheint doppelt so dick wie die andere Hälfte zu sein und aus einem toten, körperfremden Material zu bestehen. Der Schmerz ist nur innen, sagt er sich, er bedeutet nichts. – Dann richtet er sich langsam auf und wankt zur Tür.
    Der staubige Platz vor der Hausruine liegt leer und verlassen da. Alle Wagen sind fort, und auch sonst wirkt die kleine Ortschaft wie ausgestorben. Es gibt nur sechs Häuser, alle mehr oder weniger so verfallen wie das, in dem er gefangen gehalten wurde. Er untersucht vorsichtig wie ein geprügelter Hund, aber voller Sorgfalt ein Haus nach dem anderen, findet aber in keinem irgendeinen Hinweis darauf, dass dort bis vor Kurzem noch eine Gruppe von Männern campiert hätte. Wären da nicht die Reifenabdrücke, müsste er diese ganze Geschichte für ein Wahngebilde halten.
    Er muss endlich etwas trinken. Wo Menschen Häuser gebaut haben, muss es auch Wasser geben. Es sei denn, sie hatten dieses Dorf gerade deshalb aufgegeben, aufgeben müssen, weil ihnen das Wasser ausging und die Brunnen versiegten. Es wäre nicht das erste Dorf im Jemen.
    Nicht eine einzige Wasserflasche haben sie zurückgelassen! Nachdem er alle Ruinen durchsucht hat, setzt er sich, von dieser kurzen, langsamen Wanderung bereits vollkommen erschöpft, in den Schatten einer Hauswand. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als seine Kräfte bis zum Abend zu schonen. In der Nacht muss er vierzig Kilometer gehen, um es wenigstens bis zur Asphaltstraße zwischen Am Hadidah und Am Sawad zu schaffen. Auf den Pisten, vor allem, wenn sie nirgendwo hinführen als zu Geisterorten, ist manchmal wochenlang kein Wagen unterwegs.
    Wenn er sich nicht bewegt, ist der Schmerz erträglich. Ein Schmerz aus Farben. Der Wind ist kein kurzes Wort mehr, sondern ein Ziehen und Zerren an den grellbunten Tüchern auf den Leinen der Färber, die er mit sich fortzureißen droht.
    Eine Spinne kriecht über seinen schmutzigen Fuß. Er hebt schon die Hand, um sie zu zerquetschen, da fällt ihm die andere in den Arm.
    »Du darfst sie nicht töten!«, spricht die Hand.
    »Warum darf ich sie nicht töten?«, fragt die andere. »Womöglich ist sie giftig und tötet mich!«
    »Wer hat dir diesen Unsinn erzählt!«, spricht die schützende Hand. »Weißt du nicht, dass eine Spinne unseren Propheten vor seinen Feinden gerettet hat?«
    »Davon habe ich nie gehört.«
    »Es ist aber wahr. Muhammad hatte sich in einer Höhle versteckt. Bewaffnete Männer waren hinter ihm her und suchten ihn. Da kam eine Spinne und webte einen dichten Vorhang vor den Eingang, sodass die Verfolger dachten, dort sei seit tausend Jahren niemand mehr hindurchgegangen.«
    »Das muss ja eine wahre Monsterspinne gewesen sein und keine so kleine, hässliche und hinterhältige Tarantel wie diese hier. Kann diese Spinnenart

Weitere Kostenlose Bücher