Die Laute (German Edition)
Asis’ scheinbare Gleichgültigkeit kränkt ihn.
Asis liest den Stimmungswechsel im Gesicht des Arztes und denkt, im Grunde sei dem Mann diese Verantwortung wohl längst lästig. Aber Asis hat ihn nie um etwas gebeten.
Dr. Fuad seufzt. »Eine weitere Sache macht mir Sorgen. Hamid hat mich aufgesucht.«
Hamid. Jahrelang hat er nicht mehr an ihn gedacht. Noch länger ihn nicht mehr gesehen. Seinen besten Freund. Vor dem Ereignis. Und nun steht er plötzlich vor ihm, noch der Dreizehnjährige. Wie er jetzt aussehen mag, kann er sich nicht vorstellen. Früher glich sein Gesicht dem seiner Schwester. Aber das wird die Natur sicher geändert haben.
»Er wollte dich warnen. Nassar sei wieder auf freiem Fuß und suche dich. Offenkundig macht er nicht sich selbst, sondern dich für seine lange Gefängnisstrafe verantwortlich. Es scheint, als habe er in der Zwischenzeit nichts dazugelernt.«
Asis bezweifelt, dass Nassar wirklich eine Bedrohung für ihn darstellt. Asis ist nicht mehr der liebesblöde kleine Junge, der er damals war. Doch was ist mit dem Dünnbärtigen, dem Tätowierten, mit Fuads Bruder Ali? Auch wenn er nicht alle Hintergründe durchschaut, weiß er doch, dass von dieser Seite womöglich die viel größere Gefahr droht.
»Ich denke, es wäre gut, dich für eine Weile aus dem Schussfeld zu nehmen. Selbst Aden ist kein sicherer Ort.«
Asis nickt. Dr. Fuad ist ein intelligenter Mann.
»Hast du eine Idee, was du nach der Schule anfangen willst?«
»Ich will wieder Musik machen.« – Asis antwortet, ohne nachzudenken. Es kommt ihm so vor, als habe die Antwort schon lange fertig dagelegen und nur noch darauf gewartet, bis er endlich einsieht, dass niemand seiner Bestimmung entkommt.
»Keine Musikschule der Welt wird einen tauben Studenten aufnehmen, mag er auch noch so viele Melodien im Kopf haben.«
»Dann werde ich Musik machen, ohne eine Schule zu besuchen.«
Dr. Fuad nimmt Asis’ Hände in die Hand. Asis weiß, was der Arzt sagen will. Er entzieht ihm seine Hände, versenkt sie in den Hosentaschen und ballt sie zur Faust. Mit welchem Recht mischt sich dieser Mann weiter in sein Leben ein!
Dr. Fuad berührt sein Gesicht, wie Amir es getan hat, damals, an seinem ersten Schultag in Khor, und zwingt Asis, ihn wieder anzublicken.
»Habe ich dir je erzählt, dass ich in Polen studiert habe? Früher, als ich so jung war wie du, unterhielt Südjemen noch sehr enge Beziehungen zu Osteuropa und der Sowjetunion. Fast alle Ärzte, Ingenieure und Wissenschaftler hier im Süden haben in einem osteuropäischen Land studiert.«
Er wollte nie studieren. Er und Hamid wollten Fußballprofis werden. Vermutlich ist Hamid es genauso wenig geworden wie er selbst. Zumindest hat Asis nie etwas von einem erfolgreichen Fußballer namens Hamid al-Khasami im Jemen oder andernorts gehört. Er würde nun gerne seinen Arm um die Schultern seines Kindheitsfreundes legen und ihn sanft zu sich heranziehen. Hamid leistet keinen Widerstand. Asis spürt, wie Hamids Schultern sich entspannen. Mit einer vollkommen selbstverständlichen Geste streicht er ihm das Haar aus der Stirn, ein Kindheitsritual zwischen ihnen, Ausdruck wortloser Vertrautheit, wenn sie sich nach dem Fußballtraining verschwitzt und eingestaubt auf den Heimweg machten.
»Ein ehemaliger Studienfreund von mir, Adam Twardowski, ist leider ein miserabler Medizinstudent gewesen und hat glücklicherweise sein Studium abgebrochen, bevor man ihn auf die Kranken losließ. Inzwischen ist er, soviel ich gehört habe, ein in Polen recht angesehener Komponist geworden, auch wenn mir seine Stücke eher wie Fabriklärm vorkommen. Aber ich verstehe so wenig von moderner Musik wie Adam von Herzkreislauferkrankungen oder Histologie. Ich werde ihn fragen, ob er bereit wäre, einen gehörlosen Schüler anzunehmen. Ich halte ihn für verrückt genug dazu!«
Der Zug hält schon seit einer geraumen Weile auf freier Strecke. Dann verbreitet sich das Gerücht, die Lokomotive habe auf einem unbeschrankten Bahnübergang eine Fußgängerin mit einem Kinderwagen überfahren. – Die Waggontüren sind verriegelt, nicht einmal die Fenster lassen sich öffnen. Niemand darf auf freier Strecke aussteigen.
Dann komme ich langsam zu mir. Ein Name hallt noch in meinem Ohr nach. Ghufran. Habe ich ihn gerufen? Der einzige Ghufran, den ich kenne, ist seit zwölf Jahren tot. – Ich will die Augen öffnen, mich aufrichten. Doch die Augen sind schon offen, sehen aber nichts. Und als ich mich aufsetzen
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