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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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will, reißt ein Ruck fast die Schultergelenke aus ihren Pfannen. Offenbar sind meine Hände an irgendetwas gefesselt. Ebenso die gespreizten Beine. Die Unterlage ist weich, eine durchgelegene Matratze. Ein kühler Luftstrom streicht über die Haut von Schenkeln, Bauch und Brust. Offenbar bin ich nackt und nicht allein. Ich spüre Augen auf meinen Körper gerichtet. Rafał?, formen meine Lippen. Nicht Furcht, nicht Wut, nicht Ohnmacht ist das erste Gefühl, das mich überfällt, sondern Scham. Nicht dieselbe Scham, die uns als Kinder davon abhielt, uns nackt zu zeigen. Diese Scham habe ich im Jemen zurückgelassen. Aber die Scham, dem Blick des Anderen schutzlos ausgeliefert zu sein und ihn selbst nicht zu sehen. Die Scham, die ein Glaubender vor Gott empfindet.
    Ist es Rafał? Wenn es Rafał ist, dann nicht der Rafał, den ich kenne. Die Gegenwart des Anderen fühlt sich fremd an, vielleicht ein neuer, noch unvertrauter Geruch. Eine Hand legt sich auf meine Brust, warm auf der fröstelnden Haut, drückt den sich sträubenden Körper sanft nieder. Was ist das für ein Spiel? Das letzte, an das ich mich erinnern kann, ist der Cocktail, den Rafał mir gemixt hat,
Cold Turkey
, dann ein schwarzes Loch, der Name Ghufran, mit dem sich ein merkwürdiges Gefühl von Trost verbindet, dann der Zug, die tote Mutter und das Kind. War überhaupt ein Kind in dem Kinderwagen?
    Jemand hat mich in diesen Raum gebracht, auf das Bett gelegt, mich ausgekleidet, Hände und Füße an die Pfosten gefesselt und mir die Augen verbunden. Rafał?
    Er sollte wissen, was er einem Gehörlosen antut, wenn man ihm die Augen verbindet. Plötzlich ist er von jeder Kommunikation abgeschnitten. Eine Lage, in die man Häftlinge bringt, um sie zu desorientieren. Eine Vorstufe der Folter. Auch das Entkleiden gehört dazu. Die Verletzung des Schamgefühls. Das Beobachtetwerden.
    Noch immer liegt die fremde Hand warm und schwer auf meiner Brust. Der Pulsschlag wird ruhiger, die Rückenmuskulatur entspannt sich ein wenig. Ich spüre wieder den leichten Schmerz in den Schultern. Die Füße werden langsam taub. Offenbar schnüren die Fesseln die Blutzufuhr ab.
    Ist das noch ein Spiel? Wenn, dann habe ich ihm nicht zugestimmt. Im Augenblick könnte es noch alles sein. Ich in der Hand einer Organmafia, die Herz, Nieren, Netzhäute bereits an reiche Patienten verkauft hat. Gibt es so etwas hier in Nowa Huta? Oder Pornfilmproduzenten, die mit mir das ultimative Snuff-Video drehen wollen. Das gibt es zweifellos in dieser Stadt! Sind das Ängste oder Wünsche?
    So haben Hamid und Nassar mich festgehalten, als sie mir den Abflussreiniger in die Ohren gekippt haben. So lag ich auf dem OP-Tisch im Krankenhaus in Ibb, als die Ärzte mein Gehör zu retten versuchten. Obwohl das alles ewig her ist, ist es plötzlich wieder ganz gegenwärtig. Mein Körper beginnt zu zittern, vollkommen unkontrolliert.
    Die fremde Hand, zu rau und kräftig für eine Frauenhand, gleitet von der Brust bis zum Nabel hinab, als würde sie ein Pferd striegeln, mit grober Zärtlichkeit, besänftigend, und in dem Maße, in dem das Zittern nachlässt und mein Körper sich beruhigt, steigt wieder die Scham. Wie fühlt sich dieser Körper an? Was
sieht
diese Hand? Nie, seitdem die Hand meiner Mutter diesen Körper gewaschen hat, und das ist so lange her, dass ich mich nur daran erinnere, dass sie es früher einmal getan haben muss, nie hat seither eine Hand meinen Körper so nackt gesehen. Die Pfleger im Krankenhaus vielleicht. Aber davon weiß mein Körper nichts mehr.
    Plötzlich spüre ich all die Narben, die sich in den wilden Spielen meiner Kindheit angesammelt haben und nun meinen Körper entstellen, helle knorpelige Schriftzeichen auf der tonfarbenen Haut, aus meiner Blindheit heraus erscheinen sie noch entstellender, Maden und Würmer, die sich direkt unter der Hautoberfläche eingenistet haben, sich mästen und wachsen und dort ihre Eier ablegen, Erhabenheiten, die aufplatzen wie eitrige Geschwüre, sobald man sie berührt.
    Doch die fremde Hand scheint an keiner Stelle ihrer besänftigenden und wärmenden Bewegungen zu stolpern oder zurückzuschrecken, als würde sich unter ihrer schmirgelnden Rauheit jede Unebenheit glätten.
    Und meine Hilflosigkeit sucht Hilfe genau bei dem, der mich offenbar in diese Situation gebracht hat. Eine Erfahrung, auf der jedes gut geführte Verhör beruht. Als habe sie meine Gedanken mitgehört, zieht sich die Hand für einen Augenblick zurück. Dann spüre

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