Die Laute (German Edition)
ich, wie die Fußfesseln ein wenig gelockert werden und nun zwei Hände sich zunächst an meinem tauben rechten Fuß zu schaffen machen und das Leben in ihn zurückzustreicheln versuchen.
Mein Fuß, Sitz meiner Scham. Rau und verhornt bis heute durch die schuhlosen Jahre meiner Kindheit. Die Zehen zwar gerade gewachsen, weil unbeengt, aber die Sohle dick und zäh wie bei einem Lederschuh.
Obwohl es so lange her ist, dass ich barfuß durch die Gassen Ibbs gelaufen bin, habe ich das Gefühl, meine Füße seien immer noch schmutzig, schmutziger als jeder andere Körperteil, weil sie Gott am fernsten waren, ständig in Kontakt mit Kot und Staub und Teer, mit dem Rotz, den die Kinder und die Alten auf die Erde spien, dem scharfen Urin der Straßenköter, dem Blut der Lämmer, das zum Opferfest durch die Gassen strömte, Füße, knöcheltief im Blut.
Nie habe ich jemanden meinen Körper berühren lassen, zumindest nicht wie diese Hände. Mein ganzer Körper ist mein Fuß, ledrig, gottfern, verhornt, schmutzig, stinkend, blutig, verätzt.
Das erste, was ich beim Erwachen spüre, sind meine Beine, aus denen nach dem stundenlangen Stehen am Spültisch langsam die Taubheit weicht. Doch statt Leben breitet sich ein brennender Schmerz in ihnen aus. vielleicht ist es ja auch dasselbe, Schmerz und Leben.
Ich drehe den Wasserhahn auf, und minutenlang läuft eine Brühe, gelb wie dünner Tee, aus der Leitung. Ich bin nicht unglücklich über dieses gehaltvolle Wasser, denn die Tage, an denen ich mir selbst Teebeutel nicht mehr leisten konnte, sind noch nicht vergessen. Und auch jetzt noch brühe ich sie zweimal auf und schütte die Reste nicht einfach weg.
Glücklicherweise geht endlich der Winter, wenn auch viel zu langsam, zu Ende. Im Winter sind nicht nur die Umstände, die ganze Welt ist gegen dich, das Licht, die Temperaturen, die Gemüter. In dem Land, aus dem ich stamme, weiß man es gar nicht zu schätzen, dass es keinen Winter gibt, zumindest keinen Winter wie hier, wenn man vor lauter Ruß und Kohlenstaub in der Luft nicht atmen, ja nicht einmal drei Schritte weit sehen kann. Man ist sich nicht sicher, ist es überhaupt schon hell geworden, oder ist der Russfilm auf den Fensterscheiben schuld, dass kein Licht ins Zimmer dringt. Manchmal spürt man es nur an der Wärme, denn die Heizung lässt sich nicht abschalten oder auch nur herunterdrehen, sie wird für den ganzen Wohnblock zentral gesteuert: Große Hitze bedeutet irgendeine dämmrige Stunde zwischen sieben Uhr morgens und zehn Uhr abends, es ist also Tag, Eisblumen an den Innenseiten der Fenster bedeutet, Zeit, ins Bett zu kriechen und sich warm zuzudecken. Oder zur Nachtschicht aufzubrechen.
Nicht nur das Wasser ist teefarben, auch die Luft, der Schnee, die Unterwäsche, der Belag auf den Zähnen, das Licht, das aus den nackten, altersmatten Glühbirnen tropft, und das Licht, das den Weg durch die Rußpartikel in die Iris findet, alles ist teegelb, weniger wohlerzogen könnte man auch sagen: pissgelb. Aber wie gesagt, im Frühling sieht das alles schon ganz anders aus. Die feuchten Stellen in der Wohnung trocknen, zurück bleibt ein weicher grüner Pelz, alles, Licht, Wände, Wäsche, Lider und Gemüter bekommen einen Stich ins Grünliche, wie die Natur, getrocknete Urinflecken mit einer schimmeligen Kruste Hoffnung sozusagen.
Ich gehe mit meinem Glas Tee wieder ins Bett. Ich vermute, das bequeme Liegen im Diwan ist schuld, dass ich kaum je am Schreibtisch, sondern meist im Bett arbeite und dort nicht selten auch esse und vor allem lese, von den üblichen Bettverrichtungen einmal abgesehen. Aber die Teppiche und Kissen des Diwans stellen in meiner Heimat natürlich kein Nachtlager dar, sondern eher die Polstergarnitur eines Wohnzimmers. Niemand im Jemen würde im Bett essen oder arbeiten. Dort hat man geradezu Angst davor, über die Nachtruhe hinaus im Bett zu bleiben, selbst wenn man krank ist und Fieber hat. Wenn man sich krank ins Bett legt oder darin liegen bleibt, glauben die Leute, sei man bereit zu sterben.
Es hat lange gedauert, bis ich mich von dieser Vorstellung habe befreien können. Das lange Sitzen auf einem Stuhl, eine der grauenhaftesten Erfindungen des Abendlandes, an einem Schreibtisch, der in seiner den Körper und Geist paralysierenden Aura dem rückenschädigenden Stuhl kaum nachsteht, hatte mich bereits jahrelang gefoltert, ehe ich den Mut fand, endlich den einzigen Ort, an dem ich seit jeher geistige Weite und körperliches Wohlbefinden
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