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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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empfand, auch für meine Arbeit zu wählen: das Bett.
    Eine Häutung auf offener Bühne. Bei lebendigem Leib. Wie Apollon Marsyas die Haut abzieht, ist ein wahres Kunstwerk. Als wäre er ein Viehhirte oder Abdecker und habe von Kindesbeinen an nichts anderes getan. Und so, wie er eine Zigarette aus seinem silbernen Etui nimmt, sie sich in aller Seelenruhe ansteckt, das Etui wieder in seinen weißen Leinenrock schiebt, die Zigarette im Mundwinkel glimmen lässt, in die rechte Hand das rasiermesserscharfe Schächtmesser nimmt und die linke freilässt, um mit den Fingern die Haut straff zu ziehen, in die er seinen Schnitt setzt, könnte man meinen, das Geschöpf, das bei lebendigem Leib gehäutet wird, werde nicht mehr Schmerz empfinden als im Sessel eines Barbiers.
    Aber als Apollon in die rechte Fußsohle schneidet, dringt ein kaum noch menschlicher Schrei aus Marsyas Kehle. Unvorstellbar ist der Schmerz. Und das ist erst der Anfang, denn es braucht unendlich lange, bis bei dem Gehäuteten der Tod eintritt. Das Ende kommt erst, wenn der Schinder einen unbedachten Schnitt setzt, eine größere Arterie öffnet und der Geschindete vor seiner Zeit ausblutet.
    Apollon beginnt mit den Füßen, zieht die Klinge an der Wade und der Innenseite der Schenkel entlang bis zum Schambein und schält die Haut, ohne sie zu beschädigen, von den Zehen bis zum Hodensack ab.
    Bevor er sich der Brust und dem Rücken widmet, nimmt er sich mit aller Sorgfalt die Hände und die Arme vor. In der Zwischenzeit hat er sich eine neue Zigarette angezündet. Mit leicht zusammengepressten Lippen summt er eine heitere Melodie zu Marsyas tierischem Gebrüll. Diesem Faun scheint jede Würde fremd zu sein, denkt der Gott.
    Finger auf Finger schält Apollon, fast zärtlich, als würde er einen Pfirsich häuten. Dann fährt die scharfe Klinge den muskulösen Arm entlang bis zur behaarten Achsel. Er lässt die Armhaut an einem Stück von der Schulter herabhängen, während er den zweiten Arm schält. Unzweifelhaft hat dieser Gott einen ausgeprägten Sinn für Symmetrie.
    Vom Gesäß abwärts führt er seinen Schnitt die Wirbelsäule hinab bis zum Hals, nicht zu tief, um das rohe Fleisch nicht zu verletzen. Trotzdem blutet der an seinen Füßen aufgehängte Satyr aus den unzähligen kleinen Äderchen, die einst die Haut mit Nährstoffen versorgten, sodass seine Haarspitzen bereits in eine Lache dunkelroten Bluts getaucht sind. Und so wie die zerrissenen Äderchen reißen auch die mit der Haut verwachsenen Nervenenden und senden ihre schier unerträglichen Schmerzimpulse in Mark und Hirn.
    Mit größter Sorgfalt schält Apollon den Oberkörper des Fauns aus seiner Haut und zeigt die unbeschädigte Hülle voller Stolz den schweigenden Musen, die der Häutung mit ausdruckslosen Mienen folgen. Ihre schönen Gesichter zeigen weder Abscheu noch Erschütterung. Als sie die großen braunen, vollkommen unversehrten Brustwarzen sehen, nickt die Jüngste von ihnen anerkennend.
    Schließlich kniet Apollon nieder, um sich dem letzten Körperteil, dem schmerzverzerrten Gesicht des Fauns zu widmen. Dass seine Knie und der Saum seines weißen Rocks in die Blutpfütze eintauchen, stört den Gott der Musen nicht. Die nächste Quelle mit sauberem Wasser zur Reinigung strömt nur wenige Schritte vom Schindbaum entfernt.
    Er führt den Schnitt vom Nacken über den haarigen Schädel, die Stirnmitte, den Nasenrücken, quer über den Mund und das Kinn bis zum Kehlkopf. Das Abschälen braucht ein wenig Zeit, da die Haut an mehreren Stellen nahtlos in Schleim- und Binnenhäute übergeht. Am Ende starren aus der rohen roten Fleischmasse zwei immer noch lebendige, aber lidlose Augäpfel in das gelassene Gesicht des Gottes, und aus den beiden kleinen Löchern, die einmal die Nase waren, und zwischen den entblößten Zähnen röchelt der Enthäutete Blutblasen und kann doch immer noch nicht sterben.
    Der Gott nimmt die erloschene Kippe aus dem Mundwinkel und murmelt: »Der Bursche ist verdammt zäh. Das macht ihm das Sterben nicht unbedingt leichter.«
    Marsyas Körper ist ein schmales Trapez, das Gesicht eine Freude, sein Ausdruck ein Rätsel, die Brust zwei harte Knospen, der Bauch drei Rinnen im nassen Sand, der Rücken der glatte Stamm eines Apfelbaums, noch grün und knisternd im Feuer.
    APOLLON
    Keine Angst ich werde dich nicht gleich
    Ganz ausbluten lassen Freund ich will
    Dass du jede Nervenzelle spürst wenn ich dich
    Häute sieh es als Befreiung an denn
    Was ist deine Haut

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