Die Laute (German Edition)
unbekannter, aber freundlicher älterer Mann, das rechte Schienbein genagelt und im Streckverband, aus dem die Nägel oder Schrauben offen herausragen. Sicher ein komplizierter Bruch, vielleicht ein Skiunfall, das Gesicht des Mannes ist noch sonnengebräunt. Nein, über seinen Vorgänger wisse er nichts, gibt er bereitwillig Auskunft. Das Bett sei garantiert leer gewesen, als man ihn hineingestemmt habe, fügt er augenzwinkernd hinzu.
Ich frage Wojtek nach Rafał. Der Pfleger ist während all meiner Besuche immer außerordentlich aufmerksam und freundlich mir gegenüber gewesen. Fast beängstigend freundlich. Rafał habe am Vormittag auf eigene Verantwortung das Hospital verlassen, teilt er mir, nicht ohne einen bedauernden Ausdruck in seinem Gesicht, mit. Nein, niemand habe ihn abgeholt. Er habe ein Taxi rufen lassen und sei einfach gegangen, obwohl er noch ziemlich schwach auf den Beinen gewesen sei.
Ich schicke eine Kurzmitteilung an seine alte Handynummer, doch bekomme keine Antwort. Als ich wieder in der ulica Ludźmierska bin, schreibe ich – auf dem Laptop, den ich nun wohl endlich zurückgeben muss – eine kurze Mail an ihn. Sie soll auf keinen Fall besorgt klingen. Aber ich bemühe mich ganz umsonst um einen beiläufigen Ton. Kaum abgeschickt, erhalte ich eine Fehlermeldung:
Mail-adresse unbekannt
.
Ich könnte nach Zwierzyniec herausfahren, zum Haus seiner Mutter. Aber so nah standen wir uns nun auch wieder nicht, dass mein Auftauchen dort gerechtfertigt wäre. Nein, von einem Tag zum anderen ist dieser Mensch, der so gerne mein Freund gewesen wäre und in mir doch immer mehr Widerwillen als Zuneigung hervorgerufen hat, aus meinem Leben verschwunden. Und dieses Verschwinden hinterlässt kaum eine größere Leere als das Fortbleiben Cześkas. Klar, manchmal kann auch Widerwillen ein starkes und tiefes Gefühl sein. Auch eine Abneigung, die endet, ist eine so reiche philosophische Erfahrung, dass sie aus einem Tellerwäscher einen Ibn Sina machen kann.
Wie lange will ich mir noch selber etwas vormachen! Neid ist das Problem! Oder wird zum Problem, wenn das eigene Leben leer und unerfüllt bleibt; wenn Anerkennung fehlt, Erfolg ausbleibt, alle Opfer sich als vergeblich herausstellen; wenn man sich plötzlich mit der Armut, der Verwahrlosung, der Scham konfrontiert sieht, denn von der angeblichen inneren Schönheit zeigt sich an der heruntergekommenen Oberfläche nichts. Alles, Haut und Haar und Kleidung und Wohnung, stinkt nach dieser Erfolglosigkeit. Und immer noch hofft ein trotziger Rest darauf, am Ende würde einem doch noch Gerechtigkeit widerfahren, und all die Entbehrungen und Opfer seien nicht vergeblich gewesen, während die anderen unter ihren frühen Erfolgen inzwischen zerbrochen sind.
Ist das Werk es nicht wert, sich in ihm zu verbrennen? Was entgeht mir denn? Auch das Glück altert, erkrankt, stirbt. Und trotzdem gibt es sie, die Gefeierten, die vom Glück Erwählten, deren Nähe man sucht, weil das Glück genauso ansteckend ist wie das Unglück. Der Erfolg gebiert den Erfolg, die Niederlage zieht weitere Niederlagen nach sich.
Doch es ist nicht meine eigene Erfolglosigkeit, die mich bedrückt. – Gut, natürlich bedrückt sie mich! Aber mehr noch hasse ich dieses Gefühl des Neids. Es nimmt mir noch den letzten Rest an Selbstachtung. Früher war ich doch kein so neiderfüllter Mensch, obwohl es damals ungleich mehr Gründe dafür gegeben hätte. – Nein, das ist nicht wahr. Ich stamme aus einer zutiefst neiderfüllten Kultur. Die arabische Gesellschaft ist nicht nur spiritueller als der aufgeklärte Westen, sondern paradoxerweise auch materialistischer. Geld und Ansehen sind ungeheuer wichtig und nicht zu trennen. Womöglich gibt es ja einen direkten Zusammenhang mit der Ohnmacht der Gläubigen. Sicher gibt es diesen Zusammenhang! Das Streben nach Macht, Besitz und irdischem Glück ist der gelebte Zweifel, den die Strenge des Glaubens nicht auszusprechen, ja nicht einmal zu denken erlaubt. Alle Muslime zweifeln. Alle Muslime sind gierig nach irdischem Besitz. Deshalb unser Zorn, wenn jemand das anzusprechen wagt. Deshalb unsere irreführende Großzügigkeit.
Und es ist ja unser Gott selbst der Inbegriff der Eifersucht, des Geizes und der Großzügigkeit. Merkwürdig, dass Gott im Einundzwanzigsten Jahrhundert überhaupt noch ein Thema ist! Wahrscheinlich ist jeder Gott eifersüchtig, vor allem auf uns Menschen. Und ohne Eifersucht wäre er wohl kein Gott.
Lass es, Asis! All diese
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