Die Laute (German Edition)
mehr als ein Kerker
MARSYAS
Du der du nie ein Grab besitzen wirst sogar
Die Sterbenden belügen dich
APOLLON
Wie einfach doch das Sterben ist und
Wie viel schwieriger das Töten
MARSYAS
Es scheint als sei’s der Himmel der das
Letzte Wort hat wenn’s auch niemand hört
APOLLON
Und euch bleibt nichts als aus dem Sterben
Eine große Kunst zu machen
MARSYAS
Größe dauert nur in Großem fort
Der Chor der Musen bleibt stumm, versucht aber, sprechende Menschen darzustellen, aufgerissene Münder, unangenehm verzerrte Gesichter. Eher peinlich und abstoßend als expressiv. Taubstummen ähnlich, die sich mit ihren Grimassen um grammatikalische Klarheit bemühen, für alle, die ihre Sprache nicht verstehen, nur mit größtem Unbehagen anzusehen.
Als würden wir die erzwungene Anteilnahme der Hörenden nicht wahrnehmen! Wir haben lange genug in die Gesichter der Kameraden geblickt, um zu wissen, wie sehr die expressive Mimik uns verunstaltet. Der stumme Sprechakt artet in einer Grimasse aus. Für die Hörenden wirkt er obszön, wie ein frustriertes unerfüllbares Sprachbegehren, dem sexuellen Verlangen eines Impotenten vergleichbar. Wie können sie wissen, dass sich mit den peinlich-komischen Verrenkungen eine vollständige Sprache artikuliert und nicht bloß unkontrollierte Laute und Schreie der Unfähigkeit, sich mitzuteilen?
Der Chor dient in erster Linie nicht dem Gesang, sondern einer vergeblichen Grimasse des Sagenwollens, die solange obszön wirkt, bis man ihr Sprache verleiht. – In diesem Werk wird das nicht mehr geschehen.
Der Chor spricht asynchron, damit jeder Sinn des Gesagten und jede individuelle Stimme in der amorphen Tonmaterie untergeht. Dieser Untergang der individuellen Stimme im kollektiven, lärmenden Ganzen ist der eigentliche Sinn der chorischen Passagen. Sie handeln vom Wert der Stimme, auch wenn sie ihn durch die Art ihrer Inszenierung negieren. Das menschliche Organ verliert seine Seele, seine Individualität, seinen Zweck.
Je größer der Abstand zur Vergangenheit, umso klarer die Bilder. Aber die Klarheit ist Verfälschung. Als ich mitten drinsteckte in der Vergangenheit, war sie, die damals Gegenwart war, alles andere als klar. Sie war ein diffuser Ereignisstrom, in dem sich Bedeutsames nicht von Bedeutungslosem unterscheiden ließ.
Im Grunde findet dieses Ordnen erst jetzt durch das Erzählen und Verfälschen statt. Erst jetzt erinnere ich mich an den ersten Klangeindruck meines Lebens, doch bin ich mir nicht sicher, wie sehr ich der Erinnerung trauen kann. Es war auf dem Markt in Ibb, wo mein Vater sein Werkzeug auf dem Boden ausbreitete und die löchrigen Schuhe der Marktbesucher reparierte. Es muss laut zugegangen sein auf diesem Markt. Aber ich erinnere mich nur an einen benachbarten Flickschuster – wie auf arabischen Märkten üblich saßen alle Schuster in ihrem eigenen kleinen Straßensuq beieinander –, der stark nach Leim und Harz roch. Seine schwarzbehaarten Beine waren nackt, er trug nur den traditionellen Rock, und seine Fußsohlen waren so dick und schwarz, dass er selbst keine Schuhe zu tragen brauchte. Er war taubstumm, glaube ich heute, und lachte die Kunden mit einem lauten Zungenschnalzen an. Als kleines Kind, das hin und wieder auf der Plastikplane zwischen dem Werkzeug seines Vaters spielen durfte, fürchtete ich mich vor diesem scharfen Schnalzen, das wie ein Peitschenhieb klang.
So gut es ging, habe ich Krankenhäuser gemieden, die blassen Gesichter der Patienten, die weißen Kittel der Pfleger, den Verdünnergeruch; dann sitzt man da, halb weggetreten von den Desinfektionsmitteln, und weiß sich nichts zu sagen. Man darf über alles reden, aber niemals die Wahrheit sagen.
Hier, im Szpital Wojewódski, geht es anders zu als im Regierungskrankenhaus von Ibb, gedämpfter, diskreter, anonymer. Die Atmosphäre gleicht eher einem Hotel als einem Hospital, zumal Rafał in einem Einzelzimmer liegt, das ebenfalls nicht wie die Krankenzimmer aussieht, die ich in Erinnerung habe. Nur das Metallbett weist noch auf den Zweck dieses Ortes hin.
Ein junger Pfleger, W OJTEK steht auf seinem Namensschildchen, verlässt gerade das Zimmer, als ich eintreffe. Er fragt mich, ob ich ein Verwandter sei, eine offensichtlich absurde Frage, aber ich nicke. Frau Singer sei erst vor einigen Minuten gegangen, sagt er und wiederholt es noch einmal, als ich ihn auf meine Gehörlosigkeit hinweise. Ihr Sohn habe sie nicht erkannt. – Vielleicht nicht erkennen wollen, denke ich.
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