Die Laute (German Edition)
nicht hingehört, wenn sie ihm vorwarf, den ganzen Tag zu verschlafen oder nichts anderes als Fußball im Kopf zu haben. Sie neigte zu Übertreibungen, vor allem ihm, Asis gegenüber. Übertreibungen, in denen sich offene Vorwürfe und ein geheimer Stolz mischten.
Er kehrt ihr den Rücken zu, während er das saubere Hemd und die Hose überstreift, die sie ihm bereitgelegt hat. Sie schließt den Koffer, dann stößt sie ihn an, damit er ihr zuhöre. Sie weist auf den Koffer. Er versteht zwar ihre Worte nicht, aber ihr Sinn ist unüberhörbar: »Pass gut auf den Koffer auf, Junge. Er ist nur geliehen. Und du weißt ja, wie penibel deine Tante in diesen Dingen ist. Ich will ihn ihr nicht beschädigt zurückgeben müssen!«
In der Küche liegt bereits eine Plastiktüte mit Reiseproviant bereit, aufgeschnittenes Fladenbrot, in das seine Mutter Schafskäse, Oliven und ein zerteiltes hartgekochtes Ei gestopft hat. Dazu süßer schwarzer Tee in einer Mineralwasserflasche, der wie der Urin eines Nierenkranken aussieht.
Sie verabschiedet sich an der Haustür von ihm. Sein Vater sitzt bereits seit Stunden auf seinem Pappkarton am Eingang des Suqs, sein Flickschusterwerkzeug vor sich ausgebreitet, und seine Schwestern sind in der Schule. Asis geht allein – in der rechten Hand den halbvollen schwarzen Kunstlederkoffer Tante Raufas, in der anderen die Provianttüte – zum Warteplatz der Sammeltaxis.
Von Ibb geht es in unzähligen Serpentinen hinunter nach Aden. Mit jedem Kilometer steigt die Temperatur, die Sonne dehnt sich, der Mittag verschmilzt mit dem Nachmittag.
Obwohl Asis vorne neben dem Fahrer sitzt, wird er bei den ersten Serpentinen hinter Ibb kreidebleich. Der Fahrer bemerkt davon nichts, ist der Junge doch ohnehin auffällig blass. Asis versucht, auf die schmale Straße vor ihm zu achten und seinen Atem zu kontrollieren. Trotzdem bricht ihm der kalte Schweiß aus, und binnen weniger Minuten sind Hemd und Hose nassgeschwitzt.
Früher hat ihm das Autofahren nie etwas ausgemacht. Die Fahrt konnte gar nicht wild genug sein, die enge Passstraße hinauf Richtung Taiz oder über die unbefestigten Schotterwege nach Dschiblah. Aber nun ist ihm nach wenigen Kilometern so schlecht, als habe er sich stundenlang im Kreis gedreht. Er kurbelt das Seitenfenster herunter, steckt den Kopf hinaus und erbricht sich. Die Mitfahrer klopfen ihm anerkennend auf die Schulter, als habe er gerade das entscheidende Tor geschossen. Der Taxifahrer hingegen schaut, als gehöre er der gegnerischen Mannschaft an. Sobald die Straße etwas breiter wird, fährt er auf den rechten Seitenstreifen, steigt aus dem Wagen und sieht sich die Bescherung an. Auch die Fahrgäste nutzen die unerwartete Unterbrechung, zünden sich eine Zigarette an und fotografieren mit ihren Handys die gesprenkelte Linie aus Fladenbrot, Oliven und hartgekochtem Ei, die sich wie eine zweite bunte Zierleiste über die Beifahrertür zieht.
»War es das?«, fragt der Fahrer Asis missmutig. »Oder ist noch mehr zu erwarten?«
Vom Hauptbahnhof bringt mich der 292er zum Flughafen. Er fährt nur jede halbe Stunde, um zwanzig nach zehn startet der letzte. Wenn ich ihn verpasse, muss ich ein Taxi nehmen. Dann arbeite ich die Hälfte der Nacht nur dafür, das Taxi zur Arbeitsstelle zu bezahlen.
Auch wenn ich den letzten Bus erwische, bin ich zu früh am Flughafen. Meine Arbeit beginnt erst um Mitternacht. Dann ist das Abfertigungsgebäude für die Passagiere schon geschlossen. Und sie endet um vier Uhr morgens, eine Stunde bevor der erste Bus in die Innenstadt fährt. Andere, die kein eigenes Auto besitzen, haben mit den Autobesitzern eine Mitfahrgemeinschaft gebildet. Aber ich bin der einzige aus Nowa Huta. Und keiner meiner Arbeitskollegen will meinetwegen diesen Umweg fahren.
So verbringe ich neben den vier Stunden in der Paketverteilungshalle nahezu vier weitere Stunden, um an meinen Arbeitsplatz zu gelangen und vor dort wieder nach Hause zu kommen.
Die Arbeit selbst ist angenehm. Die Kollegen reden wenig, deshalb stört es sie nicht, wenn ich noch weniger rede. Die Hälfte von ihnen sind Ausländer, überwiegend Vietnamesen. Sie lächeln freundlich, wenn sie etwas nicht verstehen, und nicken. So wie ich. Die Polen machen ihre Witze über uns, die sowohl die Vietnamesen als auch ich nicht verstehen. Ansonsten verhalten sie sich uns gegenüber meistens anständig.
Der Flughafen ist klein, das Anhängsel
International
an Kraków Balice genauso übertrieben wie Aden
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