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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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schlägt oder an den Stahlsaiten zupft. Und wenn Asis seine Fingerspitzen an den Resonanzkörper hält, hört nicht nur sein inneres Ohr, sondern lässt die Vibration ihn tatsächlich die Tonhöhen unterscheiden, selbst bei geschlossenen Augen.
    Dennoch nehmen die akustischen Gedächtnisreste ab, verblassen die Hörerinnerungen. Und neue Gesichter haben gar keine eigenen Stimmen mehr.
    Während nun die anderen weiterreden, lachen, flüstern, schimpfen – Asis ahnt es nur durch ihre Mimik, wenn er denn hinschaut –, fühlt er sich wie ein Fremder, ein Außerirdischer unter ihnen. Er könnte etwas sagen, ihnen antworten, aber er traut seiner eigenen Stimme nicht mehr. Also bleibt er stumm. Und niemanden scheint es zu kümmern. Womöglich halten sie sein Schweigen für trotzig oder überheblich. Dabei schweigt er vor allem aus – Scham.
    Seine Schwestern berühren ihn gedankenlos im Nacken oder am Kopf, wenn sie ihn auf sich aufmerksam machen wollen. Asis hat es noch nie gemocht, wenn jemand plötzlich von hinten auf ihn zugekommen ist und mit einer unerwarteten Berührung überrascht hat. Nun hasst er diese Angewohnheit, die er nicht einfach nur als gedankenlos, sondern als geradezu heimtückisch empfindet. Er springt vom Tisch auf, wirft die Wasserflasche um, sieht die Überraschung in den Gesichtern der anderen, aber kümmert sich nicht weiter darum. Er stürmt aus der Küche, schlägt die Tür hinter sich zu, spürt die Erschütterung auf dem Fußboden, den Knall am Lufthauch im Nacken, ja es muss ein lautes Geräusch gewesen sein, aber es spielt keine Rolle mehr. Nichts spielt nun noch eine Rolle.
    Früher war er doch wie jeder Junge seines Alters: Er betrachtete die Kindheit einfach als einen überaus lästigen Zustand, den es möglichst rasch hinter sich zu lassen galt!
    Das Instrument in seinen steifen Händen lässt ihn spüren, was er verloren hat. Er hasst die Laute, wie er niemals zuvor etwas in seinem Leben gehasst hat. Ihre Zartheit macht ihn rasend vor Wut. Er fasst sie an ihrem schlanken Hals und schlägt den gewölbten Bauch auf die kniehohe Lehmmauer, die das flache Dach einfasst, bis das fein gearbeitete Holz zersplittert und ihre Saiten sich schlaff und nutzlos wie zerrissene Stromkabel um sich selber winden.

18
    Als er in die kleine Wohnung der Eltern im Haus seines Onkels zurückkehrt, findet er seinen Vater im dunklen Treppenhaus auf den Knien vor. Er will gerade Asis’ Schuhe für die Reise abbürsten und auf Hochglanz polieren.
    Asis nimmt seinem Vater die Schuhe und das Putzzeug aus der Hand und schickt ihn mit einer heftigen, ja bösen Geste fort. Schweigend blickt der Vater seinen Sohn an. Dann steht er auf und geht in den Diwan.
    Asis hat das Schuhputzen immer gehasst. Nur seine Fußballschuhe hatte er gepflegt. Aber bei ihnen genügte es, sie hin und wieder mit einem nassen Schwamm abzuwischen.
    Als er mit der einen Hand in den Halbschuh hineingreift, denkt er, wie geheimnisvoll doch das Innere eines Schuhs ist, wie eine dunkle Höhle, in die nie das Licht bis in den letzten Winkel dringt. Mit den immer noch schmerzempfindlichen Fingern streicht er über die Vertiefungen, die seine Zehen hinterlassen haben. Seine Fingerkuppen passen in die blank geriebenen Eindrücke und sein Daumenballen in die Ausbuchtung der Ferse. Dann streicht er mit dem Daumen über das rissige und zugleich feuchtweiche und fast lebendige Oberleder. Wenn ein Fuß darin steckt, ist es ja tatsächlich eine zweite Haut.
    Er bürstet und poliert die Schuhe so gut, wie es seine noch recht kraftlosen Hände gestatten. Am Ende glänzen sie wie das Fell eines nassen Hundes.
    Er hält seine Finger an die Nase. Sie riechen ein wenig nach Nüssen, nach Erde, nach alter Bettwäsche und natürlich nach dem Schuhfett, das alle anderen Gerüche im Haus überdeckt. Die zartmuffigen Aromen stammen aus dem Inneren des Schuhs. Asis steckt die Nase in die dunkle Höhle. Es ist eher ein Geruch des Stillstehens und Bleibens als des Gehens. Aber im Grunde ruhen die Füße ja auch im Schuh, und es ist nur das Außenleder mit seinem Lösungsmittelgeruch, das sich fortbewegt.
    Seine Mutter redet ununterbrochen, während sie den Koffer packt, den sie sich von der Schwester ihres Mannes, Tante Raufa, geliehen hat. Asis wendet den Blick ab. Früher wären es Ermahnungen gewesen. In ihren Reden wurden all die kleinen Verfehlungen, die zum Alltag eines normalen Jungen gehören, zu Vorboten zukünftiger Verbrechen. Auch früher hat er schon

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