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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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mitbringen. Asis schüttelt den Kopf. Die Mutter sei schon am Vortag da gewesen, fährt Aschraka fort, aber da habe Asis geschlafen. – Nach und nach erschöpfen sich ihre Gesten. Und da Asis stumm bleibt, verabschieden sie sich bald.
    Er überlässt den Pflegern das Festessen, die es gerne annehmen. Das Kauen verursacht immer noch einen höllischen Schmerz. Vielleicht hat die Säure sich ja vom Mittelohr bis zu den Kiefergelenken gefressen. Statt feste Nahrung zu sich zu nehmen, trinkt er viel. Einer der Pfleger hat ihm einen Strohhalm mitgebracht, sodass er das Teeglas nicht in die Hände nehmen muss.
    Asis hat Dr. Fuad al-Halawi nicht mehr gesehen, seit der Arzt ihm überraschend die ’Ud geschenkt hat. Wie lange ist das her? Asis kommt es wie eine Ewigkeit vor. Hat er ihm das unverlangte Geschenk nicht noch am selben Tag zurückbringen wollen? Hätte er es doch getan!
Kardiologe
. Er hat das Wort nicht vergessen: Arzt für Herzensangelegenheiten.
    Und nun steht der kleine Mann mit dem klugen Gesicht unerwartet vor ihm. Nein, nicht unerwartet. Nasik hat ihm ja erzählt, dass Dr. Fuad von Nassars Anschlag auf ihn weiß. Wie hat er davon erfahren? Und warum kümmert es ihn noch? Nur weil er einmal, aus Zufall oder Allahs unergründlichem Ratschluss, Asis das Leben gerettet hat, muss er sich doch nicht ein Leben lang für ihn verantwortlich fühlen!
    Ernst schaut er durch die dicken Brillengläser auf Asis herab. Er ist ein wenig kahler geworden. Und nach wie vor ist sein Gesicht bartlos. Ohne diese dicke schwarze Hornbrille wäre es das Gesicht eines Kindes, findet Asis. Als habe Dr. Fuad Asis’ Gedanken lesen können, zeigt sich ein vergnügtes jungenhaftes Lächeln auf seinen Lippen.
    Doch gleich wird er wieder ernst. Er rückt den Besucherstuhl nah an Asis’ Bett und fragt, wie es ihm gehe. Falsche Frage, Alter!, denkt Asis. Dann formen seine Lippen das erste Wort, seitdem er hier im Krankenhaus aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht ist. Er kann es selbst nicht hören, aber er hat es so oft ausgesprochen, in Gedanken und laut, dass Dr. Fuad es zweifellos verstehen wird: »Inaja?«
    Dr. Fuad seufzt und zieht Papier und Federhalter aus seiner Jackentasche.
    »Zweimal hast du das Schicksal herausgefordert, und zweimal bist du gerettet worden. Ein drittes Mal solltest du Gott nicht in Versuchung führen!«, schreibt er auf den Rezeptblock und hält ihn Asis vor die Nase.
    Asis zweifelt, ob man seinen jetzigen Zustand wirklich als ›gerettet‹ bezeichnen kann. Er schüttelt den Kopf und seine Lippen formen noch einmal das Wort: »Inaja!«
    »Soviel ich weiß, ist am Freitag die Hochzeit«, schreibt der Arzt. Asis dreht den Kopf zum Fenster. Zunächst denkt er, das Sonnenlicht ist schuld. Der Himmel ist ihm immer so nah, so selbstverständlich erschienen. Nun wölbt er sich in einem kalten metallischen Blau über die Stadt, sodass es ihm vorkommt, als befände er sich auf einem fremden Planeten.
    Nach einer Weile stößt Dr. Fuad ihn an und hält ihm wieder den Notizblock vor die Augen. »Du musst weiter sprechen, damit du es nicht verlernst!«
    Warum geht der Mann nicht? Begreift er nicht, dass Asis allein sein will in seiner Stille? Sprechen! Ist es nicht ein Glück, dass er der Welt nichts mehr mitzuteilen hat? Dass er schweigen kann, so wie sie nun schweigt?
    »In Aden gibt es eine gute Gehörlosenschule. Dort kannst du weiter lernen.« – Dr. Fuad lässt ihn nicht in Ruhe. Er will dem Arzt den Federhalter aus der Hand nehmen und eine Antwort schreiben. Aber weder seine Rechte noch seine Linke wollen ihm gehorchen.
    »Es wird eine Weile dauern, bis die Brüche verheilt sind«, sagt Dr. Fuad. Er muss es nicht aufschreiben, damit Asis es versteht.
    »Wenn du nicht sprechen willst, nick einfach, oder schüttle den Kopf«, schreibt er. »Du willst doch die Schule fortsetzen, oder?«
    Und wieder ganz von vorne anfangen? Mit anderen Taubstummen in einer Klasse? Er zuckt müde mit den Achseln.
    »Das Bezirksgericht hat Nassar zu vier Jahren Gefängnis verurteilt«, schreibt Dr. Fuad. »Aber er wird wohl früher wieder frei sein. Dann wäre es klüger, wenn du nicht mehr in Ibb bist.«
    Gleichgültig liest Asis Dr. Fuads Warnung.
    »Mein Bruder lebt in Aden und ist bereit, dich in seinem Haus aufzunehmen, bis du die Schule beendet hast.«
    »Mein Vater –« flüstert Asis tonlos.
    »Ich habe bereits mit deinem Vater gesprochen. Er wusste nicht, dass es Schulen für Gehörlose gibt, und ist sehr glücklich, dass du

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