Die Laute (German Edition)
trotz allem einen Schulabschluss erlangen kannst.«
Plötzlich fühlt Asis sich so schwach, als sei er noch gar nicht wirklich aus seiner Ohnmacht erwacht. Er schließt die Augen, ohne sie je wieder öffnen zu wollen.
17
Asis steht auf dem Dach des Hauses. Die Gassen unter ihm sind nicht mehr dieselben. So kommt es ihm zumindest vor. Natürlich weiß er, dass sich in den Wochen, die er im Krankenhaus verbringen musste, die Gassen und Straßen der Stadt nicht geändert haben können. Trotzdem, das Pflaster, die Rinnsteine, die Hausfassaden, alles, selbst die streunenden Hunde und Katzen haben sich verändert.
Er sieht, wie die letzten Wagen sich durch die Enge der Altstadt quälen, ohne jedes Motorgeräusch, sieht, wie eine Tür zuschlägt, lautlos.
Als er zum ersten Mal wieder in einen Spiegel schaut, ist auch sein Gesicht verändert; blickt ihn ein anderer an, eine helle, fast weiße Haut, als würde sie nicht von der Sonne, sondern vom Mond beschienen. Obwohl ihm bewusst ist, dass er, der früher jeden Tag in der Sonne war, im Krankenhaus so blass geworden sein muss, erkennt er sich doch selbst nicht wieder.
Und morgen soll er nach Aden fahren, eine Stadt, in der er noch nie gewesen ist, bei einer Familie wohnen, die er nicht kennt, und eine Schule besuchen, voller Krüppel wie er selbst.
Als er aufblickt, sieht er einen Nebel unzähliger, nadelstichfeiner Sterne. Hätte er ein Fernrohr, wären es noch mehr. Und sie alle haben einen Namen, oder wenigstens eine Nummer. Und er stellt sich eine Welt ohne Sonne, ohne Tag vor, eine unendliche Sternennacht, die Menschen würden allmählich bleich und ihre Augen größer und größer, und sie würden verstehen, dass ihr Planet, die Erde, nur ein winziger Punkt in diesem unermesslichen Raum ist, und womöglich der einzig belebte, für kurze Zeit, also völlig bedeutungslos. Warum es also weiterführen, das Leben, warum es nicht gleich hier und jetzt zu Ende bringen, ein Schritt in die Leere, ein Sturz vom Dach in die Tiefe, wen kümmert es?
Früher hob ein Blick in den Nachthimmel seine Stimmung, denn er fühlte sich als Mittelpunkt des Universums, als sei all diese Pracht nur für ihn erschaffen. Aber nun erkennt er die Leere zwischen dem Sternenstaub, ahnt, dass dort viel mehr Nichts ist und Schwärze und Dunkelheit als Licht. Wenn er jetzt fällt, wäre er für einen Augenblick eins mit dieser Leere, in die alles stürzt, früher oder später, ins Bodenlose, Grundlose. Nirgends ein Mittelpunkt, ein Rand, ein Halt.
Dann blenden ihn kurz die Scheinwerfer eines Lieferwagens, der unhörbar die Straße vom Wadi zur Altstadt hinauffährt, zwei Lichtpunkte wie aufblitzende Augen. Und das ganze Sternenzelt erlischt.
Er ist nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus nicht wieder in seine alte Schule zurückgekehrt. Was hätte er dort auch tun sollen? Er hätte seine ehemaligen Mitschüler und Lehrer nur in Verlegenheit gebracht und doch nichts verstanden. Also bleibt er zu Hause, blättert in den alten Schulbüchern und langweilt sich. Er weiß, dass seine Untätigkeit seiner Mutter auf die Nerven geht. Aber sie wagt nicht, etwas zu sagen. Er sieht die hilflosen Gesichter der anderen Hausbewohner, kommt ihnen jedoch mir keiner Geste entgegen.
Geht er einmal aus dem Haus, bewegt er sich anders als früher, langsamer, schwerfälliger, obwohl er im Krankenhaus doch Gewicht verloren hat. Manchmal schwindelt ihn, dann weiß er nicht, wo links und rechts, wo oben und unten ist, vor allem wenn der Himmel flach und sandfarben wirkt oder das Pflaster wie ein Polarlicht leuchtet.
Er reduziert seine Bewegungen noch mehr, sodass sie einem Stillstand gleichkommen, nur um nicht in diesen Himmel zu stürzen. Obwohl – im Grunde ist es ihm egal.
Er steht immer noch am Rand der Dachterrasse. Es ist die Nacht vor seiner Abreise. Er hält die ’Ud in seinen vom Gips befreiten, aber immer noch steifen Händen. Er spürt noch die sehr hohen und die ganz tiefen Töne, den Rhythmus des Anschlags, aber nicht mehr die mittlere Tonlage, die Tonfolge, die Melodie.
Selbst die Menschen, die Asis bisher gekannt hat, haben zunächst ihre Stimmen behalten, auch wenn sie nun zunehmend verblassen.
Er ›hört‹ die Tiere noch, das Gebell der Hunde, wenn sie ihre Zähne fletschen und das Fell sich sträubt, er ›hört‹ den Wind, wenn die Bäume sich wiegen und das Laub an den Ästen erzittert, er ›hört‹ den Klang der Trommel und der ’Ud, wenn der Spieler auf die straff gespannte Haut
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