Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
Vom Netzwerk:
hat: Die Ratte sei ganz frisch erschlagen und stamme aus seinem Vorratskeller, sei also garantiert ›biologisch‹, und er dachte, Hu werde sich vielleicht darüber freuen, denn Vietnamesen äßen ja dergleichen Nagetiere, habe er mal gehört …
    Hu nickt freundlich, hält immer noch die offene Konfektschachtel mit der blutigen Ratte in der Hand, während Maciek seine Erklärungen noch einmal wiederholt, als habe er es mit einem Kind oder einem Taubstummen zu tun, dabei hat Hu ein vietnamesisches Arztdiplom, das hier nicht anerkannt wird, und spricht fließend Polnisch, wenn er denn mal spricht. Außerdem ist er fast genauso alt wie Maciek, auch wenn er immer noch wie ein bartloser Jüngling aussieht.
    Als Maciek seine ausschweifende Rede endlich beendet hat, bedankt sich Hu erneut für das Geschenk, und antwortet höflich, ja, in Vietnam äßen sie auch Ratten, aber nicht in Polen. Vietnamesische Ratten seien größer und fetter, in etwa so wie polnische Kaninchen, und sie äßen sie auch nur in der Regenzeit, wenn sie sich auf die Bäume flüchteten und man sie wie reifes Obst pflücken könne …
    »Wenn das so ist …«, erwidert Maciek, ohne seinen Satz zu beenden, und lässt sich von Hu das ›Geschenk‹ in die schwielige Hand drücken. Hu wendet sich gelassen wieder seiner Palette zu, während die polnischen Kollegen noch eine Weile mit erwartungsvollen Gesichtern dastehen, bis Maciek die Konfektschachtel mit Klebeband verschließt und zu den Sendungen nach Köln/Bonn legt.
    Maciek ist der Älteste unter uns, so etwas wie ein Vorarbeiter, auch wenn es offiziell diese Position nicht gibt. Die Arbeit macht ihm sichtlich Mühe. Er hatte schon zweimal einen Bandscheibenvorfall. Immer haben die Kollegen ihn gedeckt, sonst würde er längst nicht mehr hier arbeiten.
    Auch mir hat er einmal ein Geschenk gemacht. Überreicht mir in einer Arbeitspause vor aller Augen einen breiten Ledergürtel, wie die Kabilen in meiner Heimat ihn tragen, damit ihre Röcke nicht herunterrutschen und um daran die Scheide für ihren Krummdolch, das Pistolenhalfter und die Handytasche zu befestigen. Doch so ein breiter Ledergürtel ist hier in Europa, zumindest für Männer, vollkommen sinnlos. Er passt in keine meiner Hosen.
    Es braucht eine Weile, bis ich den Witz begreife. Zweimal muss Maciek seinen Satz wiederholen: Das Semtex müsse ich mir schon selbst besorgen!
    Die polnischen Kollegen lassen lachend ihre Bierflaschen knallen, die Vietnamesen tun so, als hätten sie von diesem Pausengespräch kein Wort verstanden, und ich schreibe ein herzliches
dziękuję
auf meinen Notizblock und verspreche Maciek, ihn bei meiner nächsten Heimreise zu tragen.
    Rauch zieht durchs geöffnete Fenster aus der Wohnung der alten Frau Szymborska unter mir in meine Küche. Schließe ich das Fenster, quillt er durch die Löcher der Heizungsrohre und durch den Ausguss. Kalter, öliger Zigarettenrauch, den ich einatme und den meine Haut wieder ausschwitzt, ohne dass ich je eine Zigarette geraucht hätte.
    Obwohl es heute Nacht mehr als sonst zu tun gab, bin ich nicht müde. Vielleicht ist ja das Nikotin schuld.
    Morgens weckt mich dieser Rauch manchmal. Ich schrecke auf und denke einen benommenen Moment lang, jemand sei in meine Wohnung eingebrochen und säße nun rauchend in der Küche.
    Frau Szymborska ist eine freundliche alte Dame. Sie hat einen altersschwachen Hund, den sie, anstatt ihn einschläfern zu lassen, zweimal täglich die Treppen hinunter und wieder herauf trägt. Ich wüsste nicht, was ich ihr sagen sollte. Ich kann ihr ja nicht das Rauchen in ihrer eigenen Wohnung verbieten. Und für die undichten Rohrlöcher ist sie nicht verantwortlich.
    Ich wünschte mir ein Haus für mich allein. Es müsste nicht einmal ein Haus sein, eine Hütte würde mir genügen, Hauptsache, sie stünde für sich, ohne unmittelbare Nachbarn, ja weit entfernt von jeder anderen menschlichen Behausung, ein Haus am Meer, allein mit dem Rollen und Stampfen der Brandung, die jedes andere Geräusch übertönte.
    Als ich Adam Twardowski einmal meinen Ärger über meinen ständigen Ärger äußere, antwortet er: »Lass dem Ärger nur seinen Lauf. Auch er ist im Grunde nichts anderes als die Versicherung, dass wir noch leben.«
    Manchmal zweifle ich, ob ich außerhalb meiner Gedanken überhaupt noch existiere. Der einzige Beweis, ein Blick in die Köpfe der Anderen, bleibt mir verwehrt. Auch wenn ich ihre Stimmen nicht höre, habe ich den Eindruck, dass sie nur noch in

Weitere Kostenlose Bücher