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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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der Dritten Person und in der Vergangenheitsform mit mir sprechen, also eher über mich als mit mir, so wie man über oder mit einem Toten spricht.
    Dann komme ich mir, zumindest in guten Augenblicken, wie Adam Twardowski, also wie ein Legende vor. Doch fühle ich mich, wie im Augenblick, eher von allem genervt, denke ich, nicht ich bin der Welt gegenüber, sondern die Welt ist mir gegenüber taub. Dann lausche ich in mich hinein, um mich zu vergewissern, dass ich überhaupt geboren wurde und irgendwann einmal, ganz am Anfang, geschrien habe, mit einer Kappe aus Blut auf dem weichen, löchrigen Schädel und Würgemalen am Hals, als habe meine Mutter mich gleich nach der Geburt umzubringen versucht, dabei war es nur Tante Raufa, die mit ihren groben Händen meiner Mutter bei der Arbeit des Gebärens zu helfen versuchte.
    Ich soll ein lautes und sehr lebendiges Kind gewesen sein, doch daran erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass meine Mutter mich in den seltenen Fällen, in denen ich ihres Trosts bedurfte, ihren ›kleinen großen Mann‹ und ihren ›allerliebsten Gatten‹ genannt hat. Und tatsächlich ging es mir nach diesen Worten immer besser. Und wenn sie mich badete, so lange, bis ich beschnitten wurde, hat sie mit meinem kleinen Gliedchen gespielt. Mit der Beschneidung wurde ich, werden wohl alle Jungen auch dieser letzten Zärtlichkeit beraubt.
    In den ersten Monaten, solange meine Mutter mich noch stillte, und auch später noch, wenn ich krank war, lag ich in ihrem Bett, und sie roch nach meinem Urin und meinem Speichel, und ich roch nach ihrer Milch und ihrem Schweiß. Ich selber erinnere mich nicht daran, doch meine Nase erinnert sich. Und manchmal, so erinnert sich mein Ohr, teilte ich wohl auch mit euch beiden, dir und meinem Vater, das Bett, es quietschte, wenn ihr miteinander schlieft, und ich rollte in die durchgelegene Mitte und lag dann eingequetscht zwischen euch, wenn alles vorbei war.
    So eng und vertraut wir in den ersten Jahren miteinander waren, so abrupt endete diese Intimität mit der Beschneidung.
    Einmal, ja ein einziges Mal frage ich dich, wie deine eigene Kindheit war. Du bist überrascht von meiner Frage und antwortest, dass dir nie erlaubt war, was du gerne getan hättest, und dass du deshalb so rasch wie möglich erwachsen werden wolltest. Aber auch dann habe sich daran nichts geändert. Und plötzlich errötest du über das, was du gerade gesagt hast, und verstummst. Und ich begreife dass man seinen Eltern solche Fragen nicht stellt. – Von meinem Vater weiß ich im Grunde noch weniger. Ihm hätte ich solch eine Frage erst gar nicht zu stellen gewagt.
    Ich mochte den Geruch seiner Hände, ein strenger Geruch nach Leder und Schuhcreme, den keine Seife fortzuwaschen vermochte. Seine Berührungen waren immer vorsichtiger als die meiner Mutter, als befürchtete er, ich könne zerbrechen wie ein ausgeblasenes Ei. Obwohl er Schuster war, ging er selbst immer barfuss. Seine Fußsohlen waren ebenso schwarz und dick wie Schuhsohlen. Solange ich noch nicht laufen konnte, durfte ich mit seinen Zehen spielen. Onkel Ruschd, der Schlachter, hat es mir erzählt, nicht, weil er es komisch fand oder anrührend, sondern weil er es gehasst hat, dass niemand mir dieses Spiel verbot. In seinen Augen waren die Füße meines Vaters schmutzig, fast so schmutzig wie sein Beruf.
    Das letzte Mal, dass du mich badest, im Hof des Hauses meines Onkels, bin ich nackt, und du bist bekleidet. Ich bin sieben Jahre alt, das Haus ist für das Beschneidungsfest geschmückt, mit mir werden zwei Cousins beschnitten, die beiden Söhne Onkel Ruschds, der eine genauso alt wie ich, der andere ein Jahr jünger. Doch ich fühle mich allein. Du reibst mir mit dem rauen Handschuh Schmutz und Hornhaut vom Leib, seifst Haare und Haut kräftig ein, lachst, als mir Seife in die Augen gerät und sie zu tränen beginnen, und küsst mir den Seifenschaum von der Stirn und den Lidern. Es wird das letzte Mal sein.
    Der Barbier stammt nicht aus Ibb, sondern aus dem Dorf meines Onkels. Er kommt am Morgen, mit anderen Männern aus dem Dorf, Verwandte meiner Mutter, doch sie treffen sich nicht und reden nicht miteinander. Mein Vater übergibt mich meinem Onkel, er selber nimmt den jüngeren Cousin an die Hand, ein fremder Mann aus dem Dorf den gleichaltrigen. Alle drei tragen wir eine neue weiße Senna und einen breiten Gürtel mit einer Dschambija. Alle drei blicken wir mit versteinerten Gesichtern zur Erde und bewegen uns mit

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