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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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Unsichtbarkeit gezwungen. Die Jungen scheinen zwar frei herumlaufen zu dürfen, in Wirklichkeit aber sind sie in ihren eigenen Körper eingesperrt, über den sie ebenso wenig frei verfügen dürfen wie die Mädchen.
    Asis begreift, dass sich in dieser Hinsicht die Not der Gehörlosen nicht von denen der Hörenden unterscheidet, nur dass die Frustration sich anstatt in obszönen Worten in obszönen Gesten äußert.
    Die anderen spielen Ghufrans Spiel mit. Vielleicht entlastet es sie. Doch Asis hält sich aus diesem Theater der Schamlosigkeit heraus. Es kommt ihm vor, als habe seine vorangegangene Erfahrung mit der Liebe, die doch noch vollkommen frei war von jedem Gedanken ans Geschlechtliche, sein Interesse an diesem Aspekt des menschlichen Daseins ersterben lassen.
    Alle Frauen seien von der Nasenspitze abwärts gleich, sieht er Ghufran gebärden, ohne jede Ironie, die es ebenso in dieser Sprache gibt, wie in jeder gesprochenen. Mag Ghufrans Ausdruck des Begehrens auch ohne jede Tiefe sein, so steht sie doch ganz im Gleichlang mit den Ansichten der meisten Männer in diesem Land. Der empörte Ausruf
’aib!
, Schande, Schamlosigkeit! gehörten zu diesem Spiel dazu. Doch sollte jemand wagen, die Grenze des reinen Beredens oder Gebärdens zu überschreiten, würde er in diesem Land seines Lebens nicht mehr froh.
    Ein seltsamer Mann betritt das Teehaus. Er trägt mehrere auffällige Ringe an den Fingern beider Hände, sein Haar ist schulterlang und wird von funkelnden Haarspangen aus der Stirn gehalten. Sein Gesicht ist glattrasiert und glänzt, als sei es noch nass vom kurzen Schauer am frühen Abend. Seine Bewegungen sind die einer Frau, aber der Körper ist unverkennbar der eines kräftigen Mannes. – So ein Wesen des Dazwischen kennt Asis aus Ibb nicht. Aber seine Kameraden wirken in keiner Weise überrascht. Sofort beginnen sie ein Gebärdengespräch mit dem merkwürdigen Gast, als sei er ein alter Bekannter von ihnen. Gutmütig, ja heiter lässt der Fremde sich auf das Gespräch ein, und seine femininen Gebärden nehmen geradezu theatralische Züge an.
    Zunächst versteht Asis nicht oder will nicht verstehen, um was es in diesem heiter-anzüglichen Gebärdenhinundher geht. Dann errötet er plötzlich. Offenbar versucht Ghufran gerade, ihn, den Neuen, Zugereisten, unschuldig Hübschen und Unerfahrenen aus der Provinz für eine Art befristeter Ehe an dieses Zwischenwesen zu vermitteln und einen angemessenen Preis dafür auszuhandeln, wobei Asis nicht weiß und auch gar nicht wissen will, wer von beiden, er oder dieser ihm zeitweilig zugesprochene Gatte, den Preis zu entrichten habe.
    Er kann diese kleine spöttische Szene nicht heiter finden. Abrupt und ohne Abschiedsgruß steht er auf und verlässt das Café.

32
    Asis zieht die Cornflakespackung zu sich heran und studiert sorgfältig die Liste der Inhaltsstoffe. Cornflakes gab es in Ibb nicht zum Frühstück. Seine Mutter buk früh am Morgen frisches
chubs
, Fladenbrot, und kochte einen Topf voll
ful
, braune Bohnen, so lange, bis sie zu einer dicken braunen Soße verkocht waren und man sie mit Brotstücken aus dem Topf löffeln konnte.
    Die meisten Ingredienzien sagen ihm nichts, aber Zucker, Malz und Weizen versteht er in beiden Sprachen, Englisch und Arabisch.
    Nach der Cornflakespackung greift er zum Marmeladenglas und liest Wort für Wort das Etikett. Er unterbricht die Bewegung seiner Lippen nur, um sich gedankenverloren einen weiteren Löffel in Milch und Orangensaft eingeweichter Malzflocken in den Mund zu schieben.
    Said beobachtet seinen taubstummen Zimmergenossen eine Weile. Dann schiebt er Asis den Milchkarton zu. Auch hier beginnt Asis sofort, die Aufschrift zu studieren. Dann spürt er plötzlich Saids Blick und schaut zu ihm auf.
    Said grinst ihn an. »Was machst du da?«, fragt er Asis.
    Asis versteht zunächst nicht, was Said meint. Er denkt kurz nach.
    Auf dem Weg zur Schule ist es das gleiche: Er entziffert alle Ladenschilder und Straßenplakate, liest die Schlagzeilen der Zeitungen an den Kiosken, liest alles, was ihm in die Finger gerät. Das ist im Jemen naturgemäß eher wenig. Es gibt eine Menge religiöser Pamphlete, aber kaum Literatur. Vor allem keine ausländischen Romane, Erzählungen oder Gedichte. Und selbst arabische Dichter sucht er in den wenigen Buchläden Adens oftmals vergeblich. Zum Glück gibt es Alis Bibliothek.
    »Ich befürchte, chronisches Lesefieber hat mich gepackt!«, schreibt er auf seinen Notizblock.
    »Damit ist

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