Die Laute (German Edition)
sehen anders. Und das ist verständlich, ein Gehörloser muss alle Informationen aus dem ziehen, was er beobachtet. Und was er sieht, sind nicht mehr nur Gegenstände, sondern Bewegungen und Ereignisse. Die kleinste Veränderung im Gesichtsausdruck, die feinste Handbewegung wird von ihnen wahrgenommen. Es gibt kaum eine Möglichkeit, einen Gehörlosen zu belügen. Und auch untereinander kennen sie die Lüge nicht. Offenbar braucht es dazu das gesprochene Wort.
Wann immer es möglich ist, verlässt Akram mit seiner Klasse die Schule und unternimmt Ausflüge, auf denen er die Erkundung der Welt mit dem Englischunterricht verbindet, ein Besuch im Militärmuseum, eine Einkaufstour in die Aden Shopping Mall oder einen Ausflug zur Festung oberhalb des Alten Hafens. Auf diesen Exkursionen geht es vor allem darum, sich verständlich zu machen und zu verstehen. Jedem sind diese Schwierigkeiten vertraut. Und niemand muss vom Sinn und der Notwendigkeit solcher Übungen überzeugt werden.
Eigentlich steht die höllische Hitze Adens solchen Exkursionen entgegen, es sei denn, klimatisierte Innenräume sind das Ziel. So aber trägt jeder dieser Ausflüge den Charakter eines Abenteuers, das bereits mit dem Verlassen des Klassenraums und dem gnadenlosen Zugriff feuchtheißer Luft beginnt.
Die erste Erkundungsreise führt die Schulklasse zum nahe gelegenen Internationalen Flughafen von Aden. Noch keiner der Jungen ist bisher je mit einem Flugzeug geflogen. Doch Akram ist bereits zweimal in Kairo und einmal in Dubai gewesen. Er kennt sich auf Flughäfen aus.
Er fordert seine Schüler auf, sich vorzustellen, sie seien auf dem Weg von London nach New York. Es sei ihr erster Flug. Und niemand verstehe ein Wort Arabisch.
An Selbstbewusstsein hat es Asis’ Klassenkameraden nie gefehlt. Akrams Aufgabe ist für sie Alltag. Allerdings sind die Flughafenangestellten auf diese unangemeldete Invasion reiselustiger Taubstummer in keiner Weise vorbereitet. Und Akram gibt vor, mit dieser Reisegruppe nichts zu tun zu haben, was ihm mühelos geglaubt wird, denn wie ein Lehrer sieht er wahrlich nicht aus.
Asis würde es Akram am liebsten gleichtun. Er registriert die verstörten Gesichter der Männer hinter den Check-In-Schaltern, die die Jungenschar vergeblich bitten, sich hintereinander aufzustellen und einzeln vorzutreten. Natürlich versteht jeder von Asis’ Klassenkameraden die einfachen, wenngleich hilflosen Gesten der Angestellten. Aber Verstehen und Ernstnehmen sind natürlich zwei unterschiedliche Dinge.
Amir drängt sich neben Ghufran und kritzelt auf seinen Schreibblock: »We deaf. We want fly New York. You have ticket, Sir?« – Dann reicht er dem Mann hinter dem Schalter seinen Block.
Der Angestellt entziffert mühsam Amirs englische Worte und zeigt dann auf das Yemenia-Büro auf der anderen Seite der Halle. Amir versteht, dreht sich zu seinen Kameraden um und erklärt ihnen, sie müssten zunächst Tickets kaufen. – Akram lächelt und folgt der ausgelassenen Bande in einigen Metern Abstand zum kleinen Flughafenbüro der staatlichen jemenitischen Fluggesellschaft. Asis hingegen ist gar nicht nach Lächeln zumute.
Nun ist Ghufran an der Reihe. Endlich haben sie es einmal mit einer Frau zu tun, wenn auch mit keiner Jemenitin, natürlich nicht, und auch keiner sehr jungen, aber immerhin! – Ghufran schreibt auf Englisch: »How much ticket New York?« und schiebt den Zettel zur Angestellten, die mit gerunzelten Augenbrauen diese Kunden einzuschätzen versucht. Asis hält sie für eine Inderin oder Pakistanin. Auch nach dem Ende der britischen Herrschaft über Aden gibt es noch immer enge Verbindungen zum Indischen Subkontinent.
Sie antwortet, es gebe keine Yemenia-Flüge nach New York. Nun runzelt Ghufran die Stirn und schreibt: »English please, Misses.«
Ghufran ist ein hübscher Bursche. »Miss!«, korrigiert sie lächelnd und wiederholt ihre Auskunft auf Englisch. Den anderen ist das Lächeln nicht entgangen. Sie gebärden anzügliche Bemerkungen, auch wenn die Frau mühelos ihre Mutter sein könnte. – Die Angestellte folgt verwirrt und wohl auch fasziniert dem scheinbar chaotischen Gebärdenzirkus der Jungen.
Wortwechsel unter Gehörlosen sind anders. Statt auf Schallwellen reiten sie auf dem Licht. Breiten sich nicht nach allen Seiten diffus im Raum aus, sondern gezielt von Auge zu Auge. Und solange sich niemand gedankenlos zwischen sie stellt und ihren Blickkontakt unterbricht, gibt es keine Überlagerungen, keine
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