Die Laute (German Edition)
Schädel, die Haut, die spröden Knochen. Er spürt starke Vibrationen, und Klang ist ja nichts anderes als eine Vibration der Luft.
Er spürt Gewehrfeuer und Explosionen, niedrig fliegende Flugzeuge und Automotoren, Schritte auf schwingenden Böden, die tiefen Töne von Saiteninstrumenten, Trommeln natürlich und manchmal besonders tiefe, sonore oder laute Stimmen. Hält er seine Fingerspitzen an metallische Oberflächen, nimmt er sogar die Sirene eines Kranken- oder Polizeiwagens wahr.
Doch im selben Augenblick wird ihm bewusst, was er nicht mehr hört: Den Klang hoher Stimmen, Wörter, Melodien, Blasinstrumente, den Wind, Vogelgezwitscher, Kinderweinen, die Laute.
Nein, den Wind muss er ausnehmen. Sobald er den Wind auf der Haut spürt, hört er ihn auch. Nur die vollkommene Bewegungslosigkeit ist still.
Aber es genügt bereits, die Stimmen der Frauen nicht mehr zu hören, um ihn in tiefste Verzweiflung zu stürzen. Früher hat er, bevor er einschlief, oft lange wach gelegen und auf die Geräusche im Haus und auf der Gasse gelauscht: Einen tropfenden Wasserhahn, Hundegebell, ein fernes Motorrad, das Knattern feuchter Wäsche im Wind an den Leinen, die zwischen den Häusern gespannt sind … Und wenn wirklich einmal jedes Geräusch erstarb, hörte er seinen eigenen Atem, das Rascheln des Bettlakens, ein Rauschen im Ohr und manchmal, wenn er wegen etwas Kommendem aufgeregt war, seinen eigenen Herzschlag.
Er ist ja schlimmer als die einfältige Hetty! Lass die Vergangenheit ruhen! schreit er sich selber an. Du bist hier in Aden, in Crater, im Café Sakran, auf dem Grund eines erloschenen Vulkans! Und während er sich noch zur Ordnung ruft, fällt plötzlich Regen. Er weiß, es regnet so gut wie nie in Aden. Die Kinder auf der Straße jubeln. Die Cafégäste bleiben im Freien sitzen, legen ihre Köpfe in den Nacken und lassen die dicken weichen Regentropfen direkt in ihre Gesichter prasseln.
Es ist nur ein kurzer Schauer. Aber danach sieht die Welt, zumindest bis der plötzliche Glanz verdunstet ist, heller und hoffnungsvoller aus.
Nach und nach treffen seine Kameraden ein. Die innere Unruhe nimmt ab. Seine Freunde strahlen eine große Selbstsicherheit aus. Sie geben sich unangreifbar, sie schützen ihn.
Der Wirt duldet sie inzwischen, auch wenn sie wenig oder gar nichts bestellen und durch ihre unartikulierten Ausrufe und weit ausholenden Gesten manchen anderen Gast fernhalten. Doch scheinen sie dem Wirt nun willkommener zu sein als jene, die sich unverhohlen über sie lustig machen, ist der Wirt doch selber ein eher sonderlicher und wortkarger Mann. Vom frühen Nachmittag an bis tief in die Nacht sind seine Backen mit Qat gefüllt, das ihn zwar die vierzehn Stunden seines Arbeitstages über wach hält, aber danach in umso tiefere Depressionen stürzt. Asis kennt diesen Zyklus von Euphorie und Depression noch aus Ibb, wo wesentlich mehr Männer regelmäßig Qat kauen als in Aden. Aber Qat ist teuer, und das ist wohl der einzige Grund, dass in seiner eigenen Familie niemand dieser Angewohnheit verfallen ist. Sie können es sich einfach nicht leisten.
Eine Weile amüsieren sie sich über Ghufrans Einmannshow. Er ist heute Abend so aufgedreht, als stünde auch er unter Drogen. Natürlich geht es um Sex, genauer: die Unmöglichkeit von Sex. Ghufran kann sich offenbar nicht damit abfinden, was in diesem Land die Regel ist: Es gibt keinen Sex unter unverheirateten Jugendlichen. Ja, nicht einmal ihr eigener Körper gehört ihnen. Er ist ihnen nur geliehen, von Gott, oder eher noch von ihren Vätern. Niemand darf mit ihm tun oder lassen, was er will. Und schon gar nicht Dinge, die ihm Vergnügen bereiten!
Offenbar sind seine gehörlosen Freunde in diesen Fragen weniger dogmatisch, vielleicht weil sie die Stimme des Vaters nicht hören, ebenso wenig wie die öffentlichen Predigten und Koranlesungen, die jedes Aufbegehren des Körpers mit Strafe bedrohen. Ghufran macht keinen Hehl aus seinem inneren Aufruhr und seiner Frustration. Und seine gehörlosen Kameraden sind in keiner Weise schockiert über die direkten Anspielungen. Keiner von ihnen schert sich um Gebetszeiten, Moscheebesuche, rituelle Waschungen und Selbstbefleckungsverbote. Und niemand fühlt sich deswegen schuldig. Gott ist für sie keine anrufbare Realität.
Asis hingegen ist diese ›Schamlosigkeit‹ unheimlich. Nicht, dass er Ghufran nicht verstünde. Niemand sollte glauben, in diesem Land würden nur die Mädchen weggesperrt und in die
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