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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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Waggons überhitzt, im Winter wegen der starken, nach verbranntem Öl riechenden Heizung und den zu dick eingepackten Körpern, im Sommer wegen der fehlenden Lüftung. Dann kann ich nicht einmal lesen. Denn zwischen die dicht an dicht schwitzenden Leiber passt kein geschriebenes Wort mehr. – Heute Abend habe ich kein Buch dabei und schaue einfach aus dem Fenster. Am nördlichen Himmelsrand ist noch immer ein Streifen tapetengrauen Lichts zu sehen.
    Hier lebt man noch in der Ära des Schwarzweißfilms und, ja, im Zeitalter des Stummfilms. Niemand wechselt mit irgendjemandem ein Wort. Dabei hat man so viel Zeit. Wohin mit so viel Zeit? So viel Stille? Also betrinkt man sich, nicht selten schon am Vormittag. Männer fallen, mit der Bierflasche in der Hand, einfach still aufs Pflaster, Frauen in die Blumenbeete, ohne ein Zweiglein zu zerknicken, bar jeder bösen Absicht, jeden Heldentums.
    In mürrischen Momenten – und von denen gibt es ja ausnehmend viele – habe ich den Eindruck, mein Viertel sei nur von Alkoholikern bevölkert.
    Sehen, ohne gesehen zu werden! Wie sehr wünsche ich mir die Anonymität Adens zurück. Hier kann ich keinen Schritt gehen, ohne wahrgenommen zu werden. Die meisten halten mich für einen Zigeuner, einen Bulgaren oder Rumänen. Vom Jemen hat kaum einer je gehört. Sie sehen nur meine dunkle Haut. Und wenn ich auf meine Ohren und meinen Mund zeige, so nicken sie sofort, als hätten sie nichts anderes erwartet: Natürlich spricht und versteht dieser dunkelhäutige Zigeuner unsere schöne Sprache nicht!
    Dabei ist Nowa Huta aschfarben wie Aden. Alte Waschmaschinen und Kühlschränke rosten auf den Balkonen, Regale aus inzwischen faulendem Holz mit leeren Marmeladengläsern, Zeitschriftenstapeln, Fahrradsätteln und Vorhängeschlössern. Offenbar sind meine Mitbewohner nicht in der Lage, Altes, Nutzloses wegzuwerfen. Vermutlich steckt ihnen die Mangelwirtschaft noch in den Knochen, obwohl sie inzwischen doch viele Jahre hinter ihnen liegt. Aber manche Erfahrungen graben sich tief in die Menschen ein und vererben sich von Generation zu Generation. Wer weiß, ob wir den alten Kühlschrank nicht doch noch einmal wieder brauchen! Als ob es immer nur vorwärts ginge und alles besser würde! Wenn Geschichte uns überhaupt etwas lehrt, dann das ständige Auf und Ab. Die gute Zeit ist ja immer nur das Vorspiel einer neuen, noch unvorstellbareren Katastrophe!

Nun geht es nur noch bergab, steil bergab. Dieselbe Strecke bergauf mag anstrengend sei. Hinunter ist sie lebensgefährlich. Alle, die sich auf Bergfahrten freuen, wissen nicht, wovon sie reden. Ja, meine Beine sind untätig, aber die Finger sind um die Bremsgriffe gekrallt, die Bremsbacken qualmen, es riecht nach verbranntem Gummi. Die weit aufgerissenen Augen tränen. Schlaglöchern ausweichen, und Fußgängergruppen auf dem Weg zum Erlöserfriedhof, von denen nicht eine meinem Rad auch nur eine Handbreit aus dem Weg geht. Eisiger Fahrtwind, der sich mit dem Schweiß auf meinem Gesicht mischt und im Nacken gefriert. Nach dieser Fahrt wird er steif sein, wenn ich ihn mir unterdessen nicht gebrochen habe
.
    Die ersten Empfindungen auf der rasenden Talfahrt sind durchaus mit denen meiner ersten Serpentinenfahrt im Sammeltaxi von Ibb nach Aden vergleichbar: Mein Magen scheint an dünnen Gummifäden aufgehängt, und ich werde den Eindruck nicht los, als folge er mir in einem Abstand von einigen Metern. Wenn ich jetzt bremste, würde er mit all seinem sauren Inhalt weiterschnellen, womöglich aufplatzen und sich entladen wie ein zu prall mit Abwasser gefüllter Luftballon
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    Inzwischen bin ich neunundzwanzig Jahre alt. Niemand soll mir sagen, das sei doch das schönste Alter im Leben, immer noch jung, doch zugleich unabhängig und im Vollbesitz aller Kräfte
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    Die großen Krisen sind vorbei, die Katastrophen der Liebe, der Ideen, der Verluste, aber alle haben ihre Narben hinterlassen, die immer noch schmerzen, vor allem bei so einem feuchten und diesigen Wetter wie heute
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    Die Wahrheit ist immer komplizierter als die Lüge
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    Mit dem Älterwerden ist jeder Mensch gezwungen, eine zunehmende Last an Erinnerungen mit sich herumzuschleppen. Ich trage nun die Last zweier Leben, zweier Gedächtnisse, die einander ausschließen; die einander erdrücken
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    Plötzlich kommt mir ein Radfahrer entgegen, keuchend, bergauf, aber in zügigem Tempo. Die Straße scheint zu schrumpfen, die Bordsteinkanten rücken näher aneinander. Aus Angst, sie zu streifen,

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