Die Laute (German Edition)
fahre ich in der Mitte der Straße. Doch nun muss ich ausweichen. Der Entgegenkommende, mir Entgegenstürzende aber scheint sich einen Scherz mit mir zu erlauben und weicht zur selben Seite aus. Weiß nicht und kann ja auch nicht wissen, dass ich zum ersten Mal im Sattel sitze, also blutiger Anfänger bin, weniger als ein Anfänger, gerade einmal im Geburtskanal, mehr herausgestoßen und geschoben, als willentlich hineingestürzt. Wie ein Blitz zuckt es durch meinen Kopf: Das ist also mein Ende, hier auf der aleja Jerzego Waszyngtona
.
Und so sieht er also aus, der Tod: Ein junger blonder Mann, Schweißperlen auf der Stirn, lächelnd, schneeweiße Zähne, pflaumenblaue Augen, und für einen Moment scheint das Sterben unfassbar leicht. – Er reißt den Lenker herum, das Lächeln wird zu einem Lachen, ganz und gar unbeschwert, arglos, während ich so nah an ihm vorbeirase, dass ich den goldenen Flaum an seinem Kinn an meiner Wange zu spüren glaube
.
31
Im Alter von fünfzehn Jahren sind junge Leute in der Regel unglücklich. So auch Asis, wobei er zweifellos mehr Gründe für dieses Gefühl des Weltschmerzes hat als andere Jugendliche seines Alters. Vermutlich aber hält jeder dieser Unglücklichen die eigenen Gründe für die schwerwiegendsten.
Der Himmel über Aden ist ein einziger grauer Waschküchendunst. Niemals hat man freie Sicht auf einen entfernten Horizont. Ist es einmal klar, stößt der Blick auf schroffe schwarze Kraterwände. Kein Baum, kein Strauch in Adens geraden Straßen. Kein Mond, keine Sterne in den feuchten Nächten. Und dann dieser Unernst, diese Unbeschwertheit ihrer Bewohner, die Asis womöglich noch mehr bedrücken als das unerträglich Klima.
Warum ist er hier? Lernt er überhaupt etwas in dieser Schule? Er weiß es nicht. Manchmal verachtet er die Arglosigkeit seiner Kameraden. Subtil sind nur die Gesten und das Mienenspiel. Gut, Gebärdensprache hat er gelernt. Doch was fängt er damit an? Will er sein zukünftiges Leben in Gemeinschaft anderer Taubstummer verbringen? In diesem Augenblick hasst er seine Kameraden für ihre Liebenswürdigkeit.
»Warum hat Judith mehr Verstand als ich, Vater?«
»Der Himmel steh dir bei, Kind! Das ist mehr, als ich beantworten kann. Gott gibt Verstand und Aussehen und all diese Dinge, und er teilt sie aus, wie es ihm gut dünkt. Wünschest du dir mehr Verstand?«
»Nein, das wenige, was ich habe, macht mir Unruhe, denn wenn ich am argsten denke, fühle ich mich am unglücklichsten.«
Die einfältige Hetty spricht Asis aus der Seele. Eingeschlossen in seinen Kopf verbringt er mehr Zeit mit Zweifeln und Grübeln, als er früher mit Fußballspielen verbracht hat. Der andauernde Lärm um ihn herum hatte ihn abgelenkt vom ständigen Nachdenken. Aber natürlich war er da noch ein Kind und hat naturgemäß weniger nachgedacht! Hetty hat recht, das viele Denken führt nur selten zu neuen Einsichten, meistens macht es uns nur noch unglücklicher. Es ist ja auch eigentlich keine richtige Aktivität wie Schuhe flicken oder ’Ud spielen. Die Gedanken kommen, wie sie wollen, gerade jene, die am wenigsten zu Träumen und Hoffnungen Anlass geben. Sie sind wie Invasoren, die uneingeladen den Kopf besetzen und darin rumoren und ihre rohen Feste feiern und sich auch von Beschwerden und Drohungen nicht zur Ruhe zwingen lassen. Sie wohnen zwar im selben Haus, gehören aber nicht wirklich zur Hausgemeinschaft, sie machen sich rücksichtslos breit, rauben den anderen Bewohnern die Ruhe und benehmen sich nach einer Weile so, als gehöre ihnen das Haus, und wenn Asis das Zusammenleben mit ihnen nicht passe, könne er ja ausziehen. Aber so einfach ist das nicht, aus seinem eigenen Kopf auszuziehen!
Es ist wie ein plötzliches Erwachen: Es reicht! Dieses Selbstmitleid, diese Zeitvergeudung, dieses ziellose Treiben! Ja, ein Teil dessen, was er war und was er liebte, ein wichtiger Teil, ist tot, und viele Menschen in seiner Umgebung halten ihn nun für behindert, für nutzlos, dumm. Aber soll das seine Zukunft sein, Selbstmitleid und Hass auf die Hörenden? Hat er nicht noch immer denselben Kopf mit seinen Träumen, Wünschen, Ideen, ja selbst der Musik?
Natürlich, seine Ohren sind taub. Das bedeutet aber nicht, dass es vollkommen still in ihm wäre. Er begreift, dass er nie mit dem Ohr allein gehört hat, auch wenn die Wahrnehmung des Ohrs alle anderen Wahrnehmungen überdeckt hat. Aber der ganze Körper ist ein Ohr, vor allem die Fußsohlen, die Fingerspitzen, der
Weitere Kostenlose Bücher