Die Laute (German Edition)
hat Asis ihn seit dem legendären Fußballturnier nicht mehr mit Faisal zusammen gesehen.
Abdullah ist der Sohn eines Majors bei der Adener Kriminalpolizei, weiß Asis inzwischen, und sein älterer Bruder sitzt wegen Waffenschmuggels im Gefängnis. Nicht einmal die Lehrer wagen es noch, sich mit Abdullah und seiner neuen Gang anzulegen.
Aber normalerweise sind sie mit sich selbst beschäftigt, lungern auf den Schultoiletten herum und versuchen, sich gegenseitig mit ihren Feuerzeugen abzufackeln, rauchen Hühnermist oder schnüffeln billigen Klebstoff.
Das nächste feuchte Papiergeschoss trifft Asis am Ohr. Seit dem ›Ereignis‹ ist es, wenngleich taub, so doch äußerst schmerzempfindlich. Asis bleibt stehen. Amir schaut ihn fragend an, dann dreht er sich um und blickt direkt in das grinsende Gesicht Abdullahs. Sein Haar fällt glatt in die blasse Stirn. Asis erkennt die Venen unter seiner hellen, transparenten Gesichtshaut. Der Bursche sieht echt krank aus!, denkt er.
Abdullah sagt etwas, schnell, flüchtig, im Adener Dialekt. Asis und Amir verstehen die genauen Worte nicht, aber die begleitenden Gesten umso besser. Amir wirft Asis einen ängstlichen Blick zu. Asis’ Miene bleibt ausdruckslos, während er unverwandt auf einen Pickel auf Abdullahs blasser Stirn starrt.
Sie befinden sich auf dem fast menschenleeren Gehweg am Rand der breiten Flughafenstraße, direkt gegenüber vom Eingang zum Gebäude der Staatssicherheit. Bisher hat niemand ihnen Beachtung geschenkt, fünf müßige Schüler auf dem Heimweg.
Abdullah bohrt mit dem kleinen Finger seiner rechten Hand in seinem Ohr und gräbt einen Nagelrand voll orangenfarbenem Schmalz heraus. Nach kurzer Begutachtung geht er einen Schritt auf Asis zu und säubert seinen Finger an Asis’ lehmbraunem Uniformhemd. Amir schaut dieser ruhigen konzentrierten Aktion regungslos zu, als habe ein Schlangenbiss ihn gelähmt.
Mit derselben Ruhe wie Abdullah zieht Asis einen angespitzten Bleistift aus der Jackentasche, den er, wie alle Gehörlosen, neben einem Notizbuch ständig bei sich trägt. Dann greift er mit einer raschen Bewegung in Abdullahs langes strähniges Haar und zieht dessen Kopf zu sich heran, die Bleistiftspitze kaum einen Zentimeter von Abdullahs rechtem Augapfel entfernt. Den beiden Kumpanen macht er mit einer Kopfbewegung klar, es sei für ihren Anführer gesünder, wenn sie sofort verschwänden. Vergeblich warten sie auf einen Befehl Abdullahs, der nicht einmal zu zwinkern wagt. Nach einem Blick in Asis’ entschlossenes Gesicht entfernen sie sich einige Schritte.
Das alles geschieht so gleichmütig und selbstverständlich, dass Asis darüber nicht hat nachdenken müssen. Aber was fängt er nun an mit dem Hühnerscheiße und Klebstoff ausschwitzenden Jungen vor ihm? Entweder sticht man gleich zu, oder gar nicht.
Asis lässt Abdullahs fettiges Haar los, gibt ihm eine freundschaftliche Ohrfeige und wischt sich die Finger an dessen chinesischem Lacoste-T-Shirt-Imitat ab. Dann nimmt er Amir an die Hand und überquert mit ihm die belebte Straße.
Schwarze feuchte Steine, zehn, zwölf Meter hoch, schmale Sehschlitze, Asis kann die Schritte der Gefangenen spüren, und schlimmeres noch. Sekundenlang bleibt er im Schatten der Mauer stehen, die Handflächen an die schwarze Wand aus Tuffziegel gedrückt.
»Was macht ihr hier? Seid ihr verrückt!« – Ein Mann zerrt sie von dem Gebäude fort. Es ist Amirs Vater. Sein Wagen steht mit offenen Türen und laufendem Motor im absoluten Halteverbot am Straßenrand.
»Das ist die Zentrale der Geheimpolizei!«
Asis nickt.
»Sie könnten euch einfach erschießen! Habt ihr die Männer auf dem Dach nicht gesehen? Es ist verboten, diese Seite der Straße auch nur zu betreten!«
Amir reagiert gar nicht auf die Angst oder Wut seines Vaters, sondern lässt sich einfach von ihm fortziehen. Asis zuckt gleichmütig mit den Achseln. »Hab kein Schild gesehen«, gebärdet er. Kopfschüttelnd schiebt Amirs Vater sie auf den Rücksitz seines Wagens.
»Sie haben Maschinenpistolen. Sie hätten euch nur einmal angerufen«, schimpft er weiter. »Und hättet ihr ihnen nicht gleich geantwortet, hätten sie geschossen!«
Asis kennt Amirs Vater vom Sehen, hat aber bisher nie ein Wort mit ihm gewechselt. Zwar ist Amir sein bester Freund, doch weder er, noch ein anderer seiner Kameraden hat ihn bisher zu sich nach Hause eingeladen. Das wäre in Ibb anders gewesen. Dort hätte es sich schlicht um eine Frage der Ehre gehandelt. Aber in
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