Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
Vom Netzwerk:
Fragen der Ehre nimmt man es, so Asis vorläufiges Urteil, in Aden nicht so genau wie unter den Stammeskriegern des Nordens. Und wie oft war Hamid bei ihm zu Hause? Oder er im Haus der Khasamis? – Sofort erstickt er diesen Einwand. Das mit Hamid und ihm war eine Ausnahme!
    Doch dann muss er zugeben, dass es sich nicht nur um eine Frage der Ehre handelt. Die Wohnverhältnisse in Aden sind ganz anders als in Ibb. In Ibb gibt es nur wenige Mietshäuser, hier sind sie die Regel. Und in den engen und überfüllten Mietwohnungen ist selten Platz für einen Diwan, einen großen Gastraum, ganz zu schweigen von getrennten Zugängen für Frauen und Männer.
    Dann ist Amir der einzige in der Familie, der taub ist. Niemand von den anderen Familienmitgliedern beherrscht die Gebärdensprache. Und bei den anderen Klassenkameraden ist es ähnlich: Sie sind allein in ihrer Familie, und die Gespräche mit den Eltern und Geschwistern sind auf das Alltägliche begrenzt. Wenn sich niemand von ihnen bisher die Mühe gemacht hat, Gebärdensprache zu lernen, werden sie sich kaum einen weiteren Gehörlosen zu sich in die Wohnung einladen!
    Amirs Vater lässt ihn in Crater aus dem Wagen steigen. Nachdem er sich wieder beruhigt hat, spricht er nicht mehr viel. Er ist ein stiller und im Grunde unaufgeregter Mann. Und Amir gegenüber scheint er durchaus großzügig zu sein. Hin und wieder lässt er seinen Ältesten, so behauptet Amir zumindest, mit seinem Auto fahren, obwohl Amir gerade einmal vierzehn Jahre alt ist.

35
    Sie leeren die Flasche schneller, als der Alkohol ihr Gehirn zu vergiften vermag. Als die ersten Symptome des Rausches einsetzen, ist es bereits zu spät. Doch Schwindelgefühl und Übelkeit halten sich mit Euphorie und Ausgelassenheit die Waage.
    Nicht nur Abdullah oder Faisal, auch Asis ist in einem Alter, in dem Jugendliche zur Aufsässigkeit, zum Widerspruch und zur Rebellion neigen. Auch in Asis gibt es den unbändigen Drang, zum Abenteuer und zur Grenzüberschreitung, obgleich dieses Verlangen immer wieder mit einem tieferen Gefühl der Scham in Konflikt gerät.
    Doch wie groß, wie heldenhaft fühlt er sich zunächst, als es ihm gelingt, den jungen russischen Matrosen zu überreden, für ihn eine Flasche Wodka aus dem Seemannsclub in Tawahi herauszuschmuggeln. Wie er an das Geld gekommen ist, immerhin ein durchschnittlicher Wochenlohn, hält die Scham sogar vor ihm selbst verborgen.
    Heute hat er die Flasche mit zur Schule gebracht. In den Pausen macht er seinen engsten Freunden gegenüber bereits geheimnisvolle Andeutungen, und alle bleiben sie nach dem Unterricht noch auf dem Schulgelände.
    Sie verstecken sich in einer Ecke des leeren Pausenhofs, in der kein Lehrer und kein Hausmeister sie unbemerkt überraschen kann. Dann öffnet Asis die Flasche, nimmt einen kräftigen Schluck, der ihm die Kehle verbrennt und fast das Bewusstsein raubt, und reicht sie dann an Amir weiter. Jedem ist klar, dass sie etwas Verbotenes tun. Aber das macht die Sache nur noch reizvoller. Es ist wie eine Mutprobe, die sie von den anderen absondert und noch enger zusammenschweißt.
    Auch Amir verzieht schmerzhaft das Gesicht und muss sich zusammenreißen, sich nicht sofort zu übergeben. Tapfer nimmt Ghufran die Flasche entgegen. An den Gesichtern der beiden anderen hat er bereits ablesen können, warum die Indianer diese Flüssigkeit ›Feuerwasser‹ nennen.
    Als letzte nehmen Hafis und Mansur einen tiefen Schluck. Die Tränen schießen ihnen in die Augen. Aber das Wissen, dass das, was sie gerade tun, ebenso sündhaft ist wie unehelicher Sex zum Beispiel, gibt ihnen ein geradezu berauschendes Gefühl von Großartigkeit. – Sie geben die immer noch mehr als halbvolle Flasche zurück an Asis.
    Asis ist der Älteste in ihrem Kreis. Und der einzige, der schon einmal verliebt war. Auch wenn er einen hohen Preis dafür gezahlt hat. Die Freunde wissen es. Unter Tauben sagt man sich alles. Und kennt wenig Mitleid. Alle haben sie ihre leidvollen Erfahrungen. Und ohne ein großes Opfer kann die Liebe nicht groß gewesen sein, finden sie. – Aber nun fragen sie nach, wollen es genauer wissen. Wollen erfahren, wie es sich anfühlt zu lieben. Zu küssen. Die Lippen eines anderen Menschen zu spüren. Den Geschmack seiner Zunge auf der eigenen zu schmecken.
    Wie soll Asis es ihnen erklären? Seine Liebe zu Inaja war keusch. Er hat für sie Liebeslieder gespielt, ja, sie aber nie berührt oder gar geküsst. Das wissen die anderen nicht. Sie wissen nur

Weitere Kostenlose Bücher