Die Laute (German Edition)
Mansur auf, der Tisch stürzt um, aber Mansur kümmert sich nicht um das zerbrechende Geschirr. Er hört es nicht. Und die anderen Sinne trübt der Alkohol.
Doch die anderen Gäste erschreckt es. Zwei, drei Männer eilen dem Wirt zur Hilfe und halten Ghufran und Mansur fest. Ein ängstlicherer oder feigerer Gast ruft mit seinem Handy die Polizei.
Für Asis war das Mienenspiel seines Freundes zwischen Zorn und Verletztheit so schmerzhaft anzusehen, dass er, auch als die Situation so schnell eskaliert, wie gelähmt auf seinem Stuhl sitzen bleibt. So denken sie also über uns, hämmert es in seinem Kopf, debile, verachtenswerte Affen sind wir! – Natürlich ahnt er, dass sie mitverantwortlich für diesen Aufruhr sind. Trotzdem trifft ihn diese Verachtung ebenso tief wie Ghufran. Schlimmer noch: Würde er doch nur den Wirt für seine abgrundtiefe Dummheit hassen! Aber sein Hass bezieht zu seinem Schrecken ihn selbst und seine Kameraden mit ein.
Amir versucht unterdessen, den Männern mit ruhigen Gesten zu erklären, dass sie keinen Streit wollten und den entstandenen Schaden ersetzen würden. Aber schon befindet auch er sich in einem wilden Handgemenge mit den ehrbeflissenen Gästen. Taub oder nicht, hier geht es um Halbwüchsige, die Gottes Gebote missachten, die Alkohol trinken und sich gegen die väterlichen Autoritäten auflehnen! In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich nicht von anderen Heranwachsenden. In gewissem Sinn sind sie ja alle taub, die jungen Leute. Wenn man ihren Widerstand jetzt nicht bricht, ist es bald zu spät, noch Gewalt über sie zu haben.
Ein Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei hält vor dem Café. Wie ein Spuk sind ihre Mannschaftskameraden verschwunden. Amir, Ghufran und Mansur aber werden vom Wirt und seinen Helfershelfern weiterhin festgehalten und nun den Sergeanten in Kampfuniform übergeben. Und obwohl Asis tatenlos zugesehen hat, wird auch er auf einen Wink des Wirts hin in Gewahrsam genommen. Der Wirt behauptet dreist, Asis sei gar der Rädelsführer. Asis wehrt sich nicht, als die beiden Polizisten ihm grob den Arm auf den Rücken drehen. Vielleicht hat der Wirt ja sogar Recht.
Der Chef der Bereitschaftstruppe hört sich die Anschuldigungen des Wirtes an. Die Jungen fragt er erst gar nicht nach ihrer Sicht der Dinge. Als Asis mit seinen Händen die Situation zu erklären versucht, lässt der Lieutenant ihm und seinen Freunden Handfesseln anlegen. Für sie ist das so, als würde man ihnen den Mund zunähen.
Asis ist fast sechzehn Jahre alt. Da ist es im Jemen durchaus üblich, dass man ihn wie einen Erwachsenen, in diesem Fall also wie einen erwachsenen Straftäter behandelt. Aber die anderen sind jünger. Und sie sind taub. Man kann sie nicht einfach verhaften! Zumindest muss man ihre Eltern benachrichtigen. Sie werden sich Sorgen machen!
Stattdessen stößt man sie gefesselt in den Mannschaftswagen und fährt sie zum Polizeirevier in Khor Maksar, gar nicht weit von ihrer Schule entfernt. Asis versucht, etwas zu sagen. Seit dem ›Ereignis‹ hat er kaum je gesprochen. Er hat sich geschämt, seine Stimme zu benutzen. Hat befürchtet, dass sie ihm nicht mehr gehorcht. Dass sie in den Ohren der Hörenden schrill, unangenehm, idiotisch klingt. Aber nun sind seine Hände mit Plastikbändern auf den Rücken gefesselt. Und hat nicht er seine Freunde erst in diese Lage gebracht? Mit aller Kraft versucht er, sich zur Ruhe zu zwingen und so langsam und deutlich wie möglich zu sprechen. Er sagt, die anderen seien noch Kinder. Die Polizei dürfe sie nicht einfach festnehmen. – Die Sergeanten grinsen. Asis zwingt sich, dieses Grinsen zu ignorieren und wiederholt seine Sätze, so langsam und konzentriert, dass es auch der letzte Idiot verstehen müsste.
»Halt endlich die Klappe!«, fährt einer der Uniformierten ihn an und rammt ihm die Faust ins Gesicht. Seine Lippe platzt auf, er schmeckt den Eisengeschmack des Bluts auf der Zunge.
Auf dem Polizeirevier müssen sie ihre Taschen leeren und alles, auch die Hosengürtel und Schnürsenkel abgeben. Da, auf der Theke, liegen sie nun, ihre Handys, Ausweise, Notizblöcke und Bleistifte, ihre Armbanduhren, Geldbörsen und Kaugummis. Asis’ Hemd ist blutverschmiert, aber die Blutung hat offenbar aufgehört. Er versucht noch einmal, an die Vernunft der Beamten zu appellieren. In den Ausweisen steht ja das Alter, Ghufran und Mansur gerade fünfzehn Jahre, Amir erst vierzehn Jahre alt. Und jeder muss sich doch bewusst sein, dass sie taub
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