Die Laute (German Edition)
müssen. Für fünfzig Rial pro Partie kann man hier am Straßenrand unter freiem Himmel spielen, obwohl der Tisch nicht ganz gerade steht und der ausgeblichene Filz löchrig ist. Aber das hält die jungen Männer in den verschwitzten T-Shirts nicht vom Spiel ab.
Asis würde am liebsten umkehren. Er fühlt sich in diesem Viertel nicht wohl, und er will Amirs Zuhause gar nicht kennenlernen. Aber wenn er jetzt umkehrt, wird Amir zu recht sauer sein. Er mag Amir, diesen aufrichtigen, großäugigen Jungen, unter all seinen Kameraden wahrscheinlich sein engster und bester Freund. Und sicher werden seine Eltern nett zu ihm sein und sich nichts davon anmerken lassen, wie ungelegen dieser Gast kommt.
Einer der jungen Billardspieler, nacktbrüstig, das T-Shirt nachlässig zusammengerollt um den Hals gelegt, ruft ihnen etwas zu, was Asis ihm zwar nicht genau von den Lippen ablesen kann, aber fraglos eine verächtliche Bemerkung war. Asis bleibt stehen, will den Kerl zur Rede stellen, doch Amir zieht ihn weiter und weist auf einen Wohnblock vor ihnen, offenbar sein Zuhause.
»Ich kann doch nicht einfach unangekündigt bei euch auftauchen«, versucht Asis noch einmal, seinem unguten Gefühl Ausdruck zu geben. »Deine Mutter ist doch auf Besuch gar nicht vorbereitet.«
»Das ist wahr«, entgegnet Amir lächelnd. »Glaub ja nicht, dass sie dir irgendeine Extrawurst vorsetzen wird! Bei uns wird gegessen, was auf den Tisch kommt.« – Dann schiebt er Asis in den schattigen Hauseingang und hinauf in den zweiten Stock.
Amir hat einen eigenen Wohnungsschlüssel und öffnet die Tür. Der Korridor ist fensterlos und dunkel. Amir lässt seine Schultasche einfach auf den Boden fallen. Asis stellt seinen Rucksack daneben. Dann stürmt Amir ins Wohn- oder Esszimmer. Asis sieht einen gedeckten Tisch und Stühle, europäische Möbel wie in Alis Haus, ganz anders als die Wohnungseinrichtungen im Norden des Landes. Amir behält seine Schuhe an, als er das Zimmer betritt. Also zieht auch Asis seine Schuhe nicht aus. Hier gibt es keine Teppiche, die er beschmutzen könnte.
Plötzlich begreift er den wahren Grund, warum er Amirs Einladung nicht annehmen wollte. Alles hier atmet die Luft eines wirklichen Zuhauses. Die Wohnung ist eng, die Einrichtung ärmlich, verglichen mit Alis weitläufigem Haus, aber bei Ali ist er tatsächlich nur zu Gast. Amirs Zuhause erinnert ihn an die kleinen einfachen Zimmer im Haus seines Onkels in Ibb, an die zurückzudenken er sich bisher verboten hat.
Ehe dieses Gefühl des Heimwehs stärker werden kann, spürt er Schritte in seinem Rücken.
»Das ist meine Mutter!«, gebärdet Amir. Die Frau, die ihm nun freundlich die Hand reicht, trägt einen knielangen Rock und eine Bluse. Ihr kurzgeschnittenes Haar ist unbedeckt. Eigentlich sollte es ihn nicht überraschen, dass sie unverschleiert ist. Gehörlose sind ja darauf angewiesen, die Gesichter ihres Gegenübers zu sehen. Trotzdem hat er sich noch immer nicht wirklich an die freieren Sitten des Südens gewöhnen können und weiß nicht, wohin er blicken soll, als sie seine Hand ergreift.
»Setzt euch doch! Das Essen ist gleich fertig«, sagt sie beiläufig, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres als seine Anwesenheit in diesem Zimmer. »Wir warten nur noch auf die Kleinen.«
Er setzt sich neben Amir an den gedeckten Tisch. Dann schweift sein Blick durch das Zimmer. An der gegenüberliegenden Wand steht ein Schrank aus dunklem Holz, der fast bis zur Zimmerdecke reicht. Er ist viel zu groß für diesen kleinen Raum, denkt er. Aus der Schrankmitte starrt ihn wie das tote Auge eines Zyklopen ein grauer Fernsehbildschirm entgegen. Er sieht sich selbst und Amir mit lächerlich breitgezogenen Gesichtern darin gespiegelt.
Nun stürmen lärmend die drei jüngeren Geschwister Amirs herein, die Schulranzen noch auf den Rücken. Auch sie scheinen in keiner Weise von dem fremden Besucher überrascht. Ohne sich weiter mit Grüßen oder Händeschütteln aufzuhalten, kämpfen sie um ihre Plätze am Tisch. Offenbar hat Asis’ Anwesenheit zumindest die übliche Tischordnung durcheinandergebracht.
Alle scheinen sie ihre kleineren oder größeren Fehler zu haben. Amirs Schwester hat eine fast weiße Haut mit vielen leberbraunen Flecken auf der Nase und den Wangen, wasserblaue Augen und orangenschalenrotes Haar. Der mittlere Bruder hat, wie ›Hasenscharte‹, Asis Nachfolger als Stürmer auf dem Aschenplatz in Ibb, eine auffällige Narbe von der Mitte seiner Oberlippe bis
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