Die Lautenspielerin - Roman
älter als vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war und kaum je ein Wort gesprochen hatte, stand dort mit ihrem Kind und schaute ihn an. Der Blick aus ihren großen hellen Augen traf ihn härter als jeder Vorwurf. Er hatte sie alle im Stich gelassen. »Hedwig!« Mehr brachte er nicht heraus.
Wortlos gab Hedwig ihrem Mann das Kind auf den Arm. Mit zwei Sprüngen war sie bei Gerwin und schlang die Arme um ihn.
»O Gott!«, schluchzte Gerwin und drückte seine Schwester an sich. Er spürte, wie sie an seiner Brust weinte, still, kaum hörbar, und als sie sich beruhigt hatte, löste sie sich von ihm und nahm Utz das Kind ab.
»Mutter«, war alles, was sie sagte, bevor sie ins Haus ging.
Gerwin wollte ihr folgen, wurde jedoch von Utz am Arm gehalten. »Notar, eh? Wer seid Ihr?«
»Gerwin, Hedwigs Bruder. Hat sie denn nicht von mir gesprochen?«
»Was sie eben gesagt hat, war mehr, als sie in einem halben Jahr
spricht. Sie singt dem Kind vor. Keine Erbschaft?«, fragte Utz mit einem breiten Grinsen und zeigte braune Zähne.
Gerwin schüttelte den Kopf.
»Hätte mich auch gewundert.« Damit schien die Sache für ihn erledigt, und er wandte sich seinen Käfigen zu.
Das Haus bestand aus einem großen Raum, in dem eine Feuerstelle, ein Tisch, vier Schemel und in einer Ecke das Lager seiner Mutter waren. Eine Stiege führte hinauf auf einen offenen Boden, wo Gerwin die Schlafstätte von Hedwig und Utz vermutete. Hedwig stand mit dem Kind, das ihn fröhlich anlächelte, vor der einfachen Pritsche, die mit frischem Stroh bedeckt war. Darüber hatte man eine Decke und ein Laken gebreitet, und darauf lag Gudrun Pindus mit geschlossenen Augen. Ihr Atem ging schwer und röchelnd, aus dem ausgemergelten knochigen Körper schien das Leben langsam zu weichen.
Er setzte sich neben seine Mutter und ergriff ihre Hand. Auch ohne die Berührung hätte er gewusst, dass Gudrun dem Tode nahe war. Die schwarzen Schwingen warfen ihre langen Schatten bereits über sie und ließen Gerwin erschauern. Zärtlich strich er ihr über die Stirn. Die Augen lagen tief in den Höhlen, und die Wangenknochen stachen aus dünner Haut hervor. Es waren noch immer Spuren der ehemaligen Schönheit von Gudrun vorhanden, doch das grausame Leben hatte die Freude aus ihren Zügen getilgt.
»Mutter«, flüsterte Gerwin und küsste ihr die Wangen.
Gudruns Augenlider flatterten und öffneten sich. Nachdem sich die Pupillen verengt hatten, blieben sie ungläubig an Gerwins Gesicht haften. Sie sagte nichts, doch er spürte, wie ihre Finger sich um seine Hand schlossen.
»Hedwig, gib mir etwas Wasser!«, sagte er zu seiner Schwester, die ihm einen Becher reichte.
Vorsichtig benetzte Gerwin die Lippen seiner Mutter und tupfte ihr mit einem Tuch die Stirn ab. »Mutter, es tut mir leid. Ich
hätte dich nicht im Stich lassen dürfen. Es war nicht recht, dich allein zu lassen, aber ich musste fort! Es ist so viel geschehen, Gott, hilf mir!« Er presste sich die Faust an die Lippen und versuchte, den Aufruhr in seinem Inneren zu bändigen.
Gudrun schloss die Augen und schüttelte den Kopf, was sie sehr anstrengte, ihr Atem ging schwerer, der Brustkorb hob und senkte sich, dass es eine Qual war, ihr dabei zuzusehen.
»Ach, Mutter, warum musstest du Friedger heiraten? Ausgerechnet diesen elendigen Nichtsnutz, der dir das Leben zur Hölle gemacht hat … Du, du hättest einen Besseren haben können!«
Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. »Gerwin«, flüsterte sie und bedeutete ihm mit einem Finger, sich zu ihr zu beugen. »Gerwin, mein hübscher, begabter Junge.« Dann flüsterte sie mit brüchiger, kaum hörbarer Stimme: »Auf deiner Schulter ist ein Mal, Gerwin. Es sieht aus wie eine Lilie.« Sie hustete, und ihre Finger krallten sich um Gerwins Hand. »Alnbeck hat das Mal, genau wie du.« Die Worte gingen in einem Pfeifen unter, das ihren Lungen entwich.
Entsetzt starrte Gerwin auf die Sterbende, die rasselnd nach Luft rang. »Nein! Das ist nicht wahr!«
»Sterbende lügen nicht, Gerwin. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Hör mir zu!« Ihre Fingernägel gruben sich in seine Haut. »Die Waldecks waren nicht immer arm. Die Großeltern hatten bei Sayda ein Anwesen.« Sie hustete erneut, und Gerwin wischte den blutigen Schleim aus ihren Mundwinkeln. »Ich hätte dir längst alles sagen sollen, aber es schien immer, als hätten wir viel Zeit.«
»Mutter, ich hätte nicht gehen dürfen«, wiederholte er voller Reue.
Gudrun senkte die Augenlider und hatte Mühe,
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