Die Lava
blätterte darin. Er übersprang die Fotos vom Seeufer – nun war er ja hier und benötigte sie zur Orientierung nicht mehr. In Schottland hatten ihn die grünen Uferwiesen an den Loch Lomond erinnert; hier, im Krater, sah alles anders aus.
Er studierte die Informationen über die Handly Page Halifax Mk. II BB 214 und ihren letzten Flug.
Sie war am 29. August 1942 um 20:37 Uhr vom Fliegerhorst Elsham Wolds in North Lincolnshire gestartet, an der englischen Ostküste, mit Ziel Nürnberg. Besatzung: sieben Mann. Bombenfracht: vier 1000-Pfund-Bomben und eine500-Pfund-Bombe mit TNT oder Amatol. Das war die offizielle Version: Er wusste es besser. Leider. Sonst hätte er ruhiger schlafen können.
Hutter nahm die amtlichen britischen Unterlagen in die Hand. Am 30. August um 0:10 Uhr hatte sich die Halifax in 9 000 Fuß Höhe über der Hohen Acht befunden, einem Berg in der Nähe des Nürburgrings. Deutsche Jagdflugzeuge beschossen sie dreimal, bis Fritz Schellwat, der Pilot einer Messerschmidt Me 110 vom Fliegerhorst Mendig, traf. Der Pilot der Halifax erkannte, dass sie nicht mehr nach England zurückkehren konnten. Er versuchte, den Bomber mit einer Restgeschwindigkeit von vermutlich über 160 km/h in der Nähe des Klosters im Laacher See zu landen. Bei dem Versuch aber brach der Schwanz des Flugzeuges ab und prallte auf den Boden. Der Bomber schlug auf der Wiese vor dem Kloster Maria Laach auf, und die Halifax schoss wie eine Rakete weiter in den See.
Drei Soldaten, an Fallschirmen hängend, meldeten die Deutschen. Bei einem versagte der Fallschirm, ein anderer wurde tot aus dem See geborgen. Von zwei Besatzungsmitgliedern fehlte jede Spur, sie blieben verschollen. Vermutlich waren sie mit dem Bomber in den See getaucht. Die zwei Männer, die tot geborgen wurden, lagen heute auf dem Soldatenfriedhof Rheinberg. Einer der Bordkanoniere hatte überlebt und später den ganzen Hergang des Absturzes schriftlich aufgezeichnet.
Auch die Deutschen hatten alles notiert. Im Kriegstagebuch des Luftgaukommandos 12, beim Luftgau-Nachrichten-Regiment 12, verzeichnete man im Band 1 (feindliche Abschüsse) unter dem Datum des 29. Augusts 1942, es sei »eine 4-mot Maschine, Typ noch nicht festgestellt, in den Laacher See« gestürzt. Unter der Rubrik »Besatzung« las Hutter: »7 Mann, 3 Mann gefangen.«
»Will noch jemand Tee?«
Hutter schüttelte den Kopf, er hatte bereits eine dampfende Tasse vor sich stehen.
»Willst du ein Truthahnsandwich, Hutter?«, fragte Neal.
Joe schnitt angewidert eine Grimasse. »Nein!«
»Lassen Sie ihn doch in Ruhe, Neal«, maulte der Nordengländer und biss herzhaft in sein Schinkensandwich, »Sie wissen doch, dass Hutter ein Körnerfresser ist.«
Die Maschine war mit knapp 19 Flugstunden noch brandneu gewesen. Die Landung wurde im flachen Uferbereich bei der Abtei versucht, daher lag das Wrack in Ufernähe, in wenigen Metern Wassertiefe. Das Heck war offenbar abgerissen, der Rest konnte zerbrochen sein.
Es gab jede Menge Augenzeugen, die das Wrack gesehen haben wollten – warum es so unauffindbar war, warum Expedition nach Expedition vergeblich danach suchte, ließ sich mit diesen Berichten schwer in Einklang bringen.
Die Briten nahmen an, dass das Flugzeug in zahlreiche Trümmer zerborsten war. Aber daran ließ sich zweifeln. Ein älterer Mann aus der Gemeinde Bell hatte vor Jahren einer Lokalzeitung erzählt, dass er und seine Freunde als Kinder auf dem Wrack der Halifax gespielt hatten. Sie seien in Badehosen darauf geklettert, erinnerte sich ein anderer Mann. Damals habe es noch aus dem Wasser geschaut, halbwegs zwischen dem Bootsanleger des Klosters und dem Landungssteg des Bootsverleihs. Im Winter, wenn der See gefroren war, konnte man unter dem Eis sogar die Pilotenkanzel erkennen.
Zusammengenommen aber ergaben die Augenzeugenberichte wenig Sinn: Ein Mann aus Rheinhessen wollte gesehen haben, wie die Halifax im letzten Moment noch ihre Bomben abwarf. Andere erinnerten sich an das brennende Flugzeug, das in den See gestürzt war. Das Wrack wurde an den unterschiedlichsten Stellen unter Wasser beobachtet.
Und da war die Geschichte eines Mitglieds des DLRG derAbteilung Laacher See. Er wollte in der Flachwasserzone bei dem Bootssteg der DLRG »ein weitgehend komplettes Flugzeug« gesehen haben. Zu Übungszwecken sei man mehrmals dort hinuntergetaucht – was Hutter fraglich schien. Denn in den 1990er Jahren, der Zeit, aus der dieser Bericht stammte, war das Wrack längst unauffindbar
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