Die Lava
Batterie von Tests darüberlaufen lassen: von einer Falschfarben-Kontrastanalyseüber das Ausfiltern technischen Rauschens bis zu einer Profilverstärkung. Jetzt war aus dem Verdacht praktisch eine Gewissheit geworden: Neal hatte ein Wrack gefunden, ein Flugzeugwrack. Leider war es zu klein für eine Handly Page Halifax, dennoch war es sehr gut möglich, dass der Bomber sehr tief in den Schlamm gesunken oder zerbrochen war oder dass Neal zumindest einen Teil des Flugzeugs gefunden hatte.
Die Euphorie wich einer eigenartigen, angespannten Stille.
Vielleicht sogar beängstigte die Vorstellung, nun dem Ziel so nahe zu sein. Was, wenn die Bergung misslang? Wenn die Aktion, die die Welt vor dem Verderben bewahren sollte, nun zum Auslöser der Katastrophe wurde?
Allein MacGinnis wirkte fröhlich, fast ausgelassen – so hatten sie ihn seit Tagen nicht mehr gesehen. »Wir sind jetzt dran, und wir beenden dieses Kapitel!« Er wandte sich an den Nordengländer. »Ich möchte, dass Sie eine Simulation des Ausbruchs fahren«, sagte er im Befehlston. »Jede Wettersituation, von Windstille bis zum Orkan, von dem aufgefundenen Wrack und von unserer geplanten Bergungsstelle aus.«
Der Nordengländer nickte wortlos und begann sofort damit, Daten in seinen Computer einzugeben.
»Ich will auch wissen«, fuhr MacGinnis fort, »wie viele Leute dann in welchen Zeitintervallen sterben werden – in Skalen von Sekunden, Minuten und Tagen! Die Toten in Tausendern!«
Vor dem Fenster hüpfte ein Vogel auf einen Zweig und zwitscherte sein Abschiedslied zur untergehenden Sonne.
Neal betrachtete einen Ausdruck der randverstärkten Sonarechos und fuhr den Umriss des Flugzeugs mit seinen Fingern nach.
»Wir sollten unverzüglich Joe Hutter informieren«, meinte er, »damit der sofort tauchen kann. Es sollte da …«, er blickteauf einen Seitenbalken der Grafik, »na ja, mindestens dreißig Fuß, vermutlich tiefer sein.« Die Tiefe hatte sich mit dem Side-Scan-Gerät, das im See noch nicht kalibriert worden war, schwer messen lassen.
»Es ist schon spät«, antwortete MacGinnis. »Es wird bereits dunkel. Wir dürfen gerade jetzt keine unnötigen Risiken eingehen. Hutter kann morgen tauchen. Lassen Sie ihm seinen Frieden für diese Nacht.« Auf einmal erschöpft sank er in seinen Stuhl zurück. »Gehen Sie doch nach Hause, wenn Sie ihre Simulation beendet haben«, sagte er dann mit einer breit ausholenden Geste seiner rechten Hand, die zur Tür wies. »Schlafen Sie sich gut aus! Ich muss noch ein paar dringende Anrufe machen.« Er goss sich eine Tasse Tee ein. »Leider!«
Der Alte hatte wie immer recht: Ihre verständliche Aufregung musste einem planvollen Handeln weichen. Am nächsten Tag war die übliche konzentrierte und geschäftige Nüchternheit angesagt.
»Gute Nacht, Mr. MacGinnis«, sagte der Nordengländer, die Hand bereits an der Türklinke, die Augen müde.
»Gute Nacht.«
»Bis morgen, Chef.«
»Bis morgen, Neal. Morgen wissen wir mehr.«
Es roch nach frischem Tee.
Ihre Wohnung umfasste einen erweiterten Flur als Wohnzimmer mit Essnische, ihr Schlafzimmer und Claras Kinderzimmer, dazu ein Bad und eine winzige Küche, alles möbliert mit einer eigenen Mischung aus Familienerbstücken und günstigen Schränken vom Möbeldiscounter. Schön war etwas anderes.
Die Tage waren aufregend gewesen – in vielerlei Hinsicht.
Erst die Ausbrüche des Brubbels und des Andernacher Geysirs, dann der Ausflug mit Joe zum See und der Platzregen,als ihr das T-Shirt unangenehm nass auf der Haut klebte; dann Clara, die vom Rad gefallen war; danach, am Nachmittag, der erneute gemeinsame Ausflug zu angeblich vulkanischen Erscheinungen – die Verabredung, eine SMS zu schicken.
Und nun? Nun sah Franziska auf die Uhr und wartete. Sie kam sich vor wie ein Teenager. Um 20 Uhr wollte Joe sich melden, dann noch einmal vor dem Einschlafen.
»Ich male ihm ein Bild vom Wasserteufel«, erklärte Clara und verschwand mit einem Stapel Papier und Buntstiften in ihrem Zimmer. Franziska ahnte schon, dass es keine fünf Minuten dauern würde, bis ihre Tochter wieder zu ihr zurückkehrte, vermutlich mit über zwanzig Farbbildern unter dem Arm.
Der Boden bebte – ein leichter Erdstoß.
Es war nicht schlimmer als die Bodenvibrationen, das Gläser- und Scheibenklirren, das ein Schwerlaster erzeugt, der auf der Straße vorbeifährt, aber es ließ sich deutlich spüren.
Clara kam aus ihrem Zimmer gestürmt. »Mama, kommt das jetzt jeden Tag um diese
Weitere Kostenlose Bücher