Die Lava
dass für sie stimmte, was sie geglaubt und sich erhofft hatten. Das Schweigen in der Familie jedenfalls lehrte ihn, präzise zu sein, Schwierigkeiten frühzeitig zu erkennen und sie zu lösen, bevor sie sich auswuchsen. Es war genau diese Präzision, die ihm nun bei seinen Aufgaben half: das stille und kühne Abwägen von Optionen.
Und nun war plötzlich Franziska in sein Leben getreten.
»Tut mir leid«, erklärte sie, als sie über eine Stunde zu spät am Treffpunkt erschien. »Clara hatte einen Unfall.« Sie atmete schwer, ob wegen der Hektik oder aus Angst, wusste Joe nicht zu sagen.
»Um Himmels willen!« Joe erschrak. »Was ist passiert?«
»Nein, nein, es ist nichts Schlimmes passiert«, beruhigte ihn Franziska. »Sie hat nur eine Schürfwunde, weil sie vom Fahrrad gefallen ist. Aber ich musste sie noch schnell verarzten. Sie ist jetzt bei unserer Nachbarin. Alles halb so schlimm.«
Joe merkte, dass er sich ernsthaft Sorgen machte. Er spürte, wie sich sein Leben änderte. Wie plötzlich andere Menschen eine große Rolle zu spielen begannen.
Franziska und er trafen sich, um gemeinsam einige Meldungen über Erdveränderungen zu untersuchen. Die meisten Menschen halten die Erde für unwandelbar – eben für den festen Boden unter den Füßen. Doch das stimmt nicht: Sturmfluten können ganze Steilküsten fortreißen oder Landstücke und Sandbänke anschwemmen; Erdbeben lassen Inseln entstehen oder im Meer versinken; Flüsse ändern ihren Lauf; Seen stauen oder entleeren sich; und durch vulkanische Kräfte entstehen innerhalb weniger Tage hohe Berge. Was für Geologen selbstverständlich war, entdeckten die Eifelbewohner gerade: Von der Sensationspresse angestachelt, meldeten sie zahllose vulkanische Gefahren. Nach Andernach und dem Brubbel bauschte die Presse so manche Pfütze zu einem sich bildenden Geysir auf, nahmen die Menschen Erschütterungen wahr, die sie sich nur einbildeten. Am Tag zuvor war in Koblenz eine Panik entstanden, weil schwarze, sich ballende Gewitterwolken im Westen der Stadt von einigen für einen Ausbruch des Laacher Sees gehalten worden waren und sich die Vermutung durch Blogs im Internet in Minutenschnelle fast in eine Gewissheit verwandelt hatte. Eine Nachrichtenagentur hatte sogar schon eine entsprechende Meldung an die Zeitungen geschickt – mit einem Dementi zehn Minuten später.
Ein wenig schämte sich Franziska, als sie von diesen Vorfällen erfuhr. Sie gab sich und ihrem dramatischen Fernsehauftritt eine Mitschuld daran. Einige der Meldungen schienen trotzdem einer näheren Begutachtung und Prüfung wert.
Je häufiger die Boulevardzeitungen Bilder von rotglühenden Lavaströmen, brodelnden Kratern und Fotomontagen des Laacher Sees mit Rauchsäule brachten, desto öfter meldeten einfache Bürger vulkanische Phänomene in ihren Vorgärten.
An diesem Nachmittag hatten Franziska und Joe Hutter mindestens drei dieser Meldungen aus der unmittelbarenUmgebung des Laacher Sees kontrolliert, aber jedes Mal feststellen müssen, dass es sich um Falschmeldungen handelte. Die Leute waren aufmerksamer geworden und hielten es für ihre Pflicht, den Behörden Erdveränderungen und seltsame Vorkommnisse zu melden, die auf Vulkanismus hindeuteten. Manch einer interpretierte da ganz gewöhnliche Dinge neu und sah sie im falschen Licht der Horrormeldungen.
Dabei unterschätzten manche die realen Gefahren gehörig: Ein Reporter schlich sich nachts hinter die Absperrung des Brubbels, um Fotos zu schießen – und erlitt hochgradige Verbrennungen.
Und von der eigentlichen Gefahr, dachte Joe, weiß ohnehin nur eine Handvoll Leute. Ein heißer Geysir, der im Laacher See sprudelte, war die größtmögliche Katastrophe, die er sich vorzustellen vermochte.
»Du machst dir ja ziemlich viel Mühe für deinen Investor«, meinte Franziska.
»Es ist auch ein großer Investor«, entgegnete Joe, als beide einen steilen Bergweg erklommen.
Ein Ort blieb ihnen noch zu überprüfen, der fünfhundertsechzig Meter hohe Hochstein oder Forstberg bei Obermendig, keine zehn Kilometer westlich des Laacher Sees. Wenn sie den Fremdenführer für Touristen spielte, schwärmte Franziska immer von dessen »gut erkennbarem Krater«. Ehrlicherweise aber glich der Berg einem Nichtgeologen jedem anderen mischwaldbestandenen deutschen Mittelgebirgshügel mit einer leichten Delle auf dem flachen Gipfelplateau. Der Hochstein war viel älter als der Laacher Vulkan, seinen letzten Ausbruch hatte er vor rund dreißigtausend
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