Die Lebensfreude
und geduldete Ruin in dieser engen Nachbarschaft mit dem großen Meere, das sie nährte und tötete. Es entstand ein Gewirre, ein Getrampel von schweren Schuhen; alle flüchteten hinter die Mauer von Sandsteinen, deren Linie allein noch die Häuser schützte. Einige Pfähle gaben schon nach, die Balken waren eingeschlagen, ungeheure Wogen stürzten über die zu niedrige Mauer. Nichts leistete mehr Widerstand, eine Wassermasse zertrümmerte bei Houtelard die Fensterscheiben und überschwemmte die Küche. Da entstand eine wilde Flucht, nur das Meer blieb siegreich und fegte den Strand.
»Geh nicht hinein«, rief man Houtelard zu. »Das Dach wird gleich einstürzen.«
Lazare und Pauline waren langsam vor der Flut zurückgewichen. Keine Hilfe war möglich, sie kehrten heim; auf der Mitte der Anhöhe warf das junge Mädchen einen letzten Blick auf das bedrohte Dorf.
»Arme Leute!« murmelte es.
Lazare aber verzieh ihnen ihr blödsinniges Gelächter nicht. Ins Herz getroffen durch diesen Zusammensturz, der für ihn eine Niederlage bedeutete, machte er eine zornige Bewegung und tat endlich die Zähne auseinander.
»Das Meer möge in ihren Betten schlafen, weil sie es so liebten. Ich werde es gewiß nicht daran hindern!«
Veronika kam ihnen mit einem Schirm entgegen, denn der Platzregen begann von neuem. Von der Mauer gedeckt, rief Abbé Horteur ihnen Worte zu, die sie nicht verstanden. Das entsetzliche Wetter, die zertrümmerten Bollwerke, das Elend des Dorfes, das sie in Gefahr zurückließen, gestaltete ihre Heimkehr noch trauriger. Als sie in das Haus traten, kam es ihnen kahl und eisig vor, nur der Wind strich mit unaufhörlichem Geheul durch die düsteren Räume. Sobald sie erschienen, begann der vor dem Koksfeuer eingenickte Chanteau zu weinen. Keines von beiden ging sich umzukleiden, um die entsetzliche Erinnerung an die Treppe zu vermeiden. Der Tisch war gedeckt, die Lampe angezündet, man speiste sofort. Es war ein trauriger Abend, die heftigen Stöße des Meeres, von denen die Mauern bebten, schnitten den kargen Wortwechsel ab. Als Veronika den Tee brachte, meldete sie, daß das Haus der Houtelards und fünf andere schon am Boden lägen; diesmal werde das halbe Dorf zugrunde gehen. Chanteau darüber verzweifelt, daß er in seinen Leiden noch nicht das Gleichgewicht gefunden habe, schloß ihr den Mund mit den Worten, er habe genug an seinem Unglück zu tragen und wolle nicht noch von dem der anderen hören. Nachdem man ihn zu Bette gebracht hatte, legten sich alle von Müdigkeit wie zerschlagen nieder. Lazare hielt bis zum Morgen Licht; und Pauline öffnete beunruhigt wohl zehnmal leise die Tür, um zu lauschen; aber es stieg aus dem jetzt leeren ersten Stockwerke nur ein totes Schweigen herauf.
Vom folgenden Morgen an begannen für den jungen Mann die endlosen und brennenden Stunden, die einer großen Trauer folgen. Er erwachte aus ihr wie aus einer Ohnmacht nach einem Falle, von dem seine Gliedmaßen für immer eine Steifheit zurückbehalten; er hatte jetzt wieder seinen Kopf, eine klare Erinnerung frei von der Beklemmung, die soeben mit den trüben Bildern des Fiebers hinter ihm lag. Alle Einzelheiten erwachten wieder, er durchlebte seine Schmerzen noch einmal. Die Tatsache des Todes, mit der er zuvor noch nie in Berührung getreten, war jetzt da bei ihm, in Gestalt seiner in wenigen Tagen schnell dahingerafften Mutter. Das Entsetzen, nicht mehr zu sein, ward jetzt handgreiflich; man war zu vieren, und es wurde ein Loch gegraben, man blieb zu dreien vor Jammer bebend zurück, man mußte sich eng aneinander schmiegen, um von der verlorenen Wärme ein wenig wiederzufinden. Das hieß also sterben? Das war das Niewieder, diese zitternden, sich um einen Schatten schließenden Arme, der von sich nichts als ein schreckensvolles Bedauern zurückließ.
Er verlor seine arme Mutter von neuem zu jeder Stunde, jedesmal, wenn der Tod sich in ihm aufrichtete. Anfangs hatte er nicht soviel gelitten, weder als seine Base hinuntergekommen war und sich in seine Arme stürzte, noch während der grausam langen Bestattung. Er empfand den schrecklichen Verlust erst nach der Rückkehr in das leere Haus; und sein Kummer verbitterte sich noch mehr durch die Gewissensbisse darüber, daß er angesichts des ihm durch den Todeskampf versetzten Schlages, als etwas von der Verschwindenden noch auf Erden war, nicht mehr geweint habe. Die Furcht, seine Mutter nicht geliebt zu haben, quälte ihn, erstickte ihn manchmal. Er beschwor sie
Weitere Kostenlose Bücher