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Die Lebensfreude

Die Lebensfreude

Titel: Die Lebensfreude Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emil Zola
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fortwährend herauf, ihr Bild suchte ihn beständig heim. Stieg er die Treppe hinauf, meinte er, sie müsse mit ihren kleinen behenden Schritten aus ihrem Zimmer treten und über den Flur eilen. Manchmal drehte er sich um, weil er sie zu hören glaubte; so voll war er von ihr, daß ihm seine Sinne das Streifen eines Kleides hinter der Tür vorspiegelten. Sie war nicht erzürnt, sie blickte ihn nicht einmal an; sie war nur eine vertraute Erscheinung, ein Schatten des früheren Lebens. Des Nachts wagte er nicht die Lampe auszulöschen, flüchtige Geräusche näherten sich seinem Bette, ein Atem streifte in der Dunkelheit seine Stirn. Anstatt daß sich die Wunde schloß, wurde sie täglich größer; bei der geringsten Erinnerung empfand er eine nervöse Erschütterung, sah er eine handgreifliche, schnell auftauchende und ebenso schnell wieder verschwindende Erscheinung, welche die Bangigkeit des »Niemalsmehr« in ihm zurückließ.
    Alles im Hause erinnerte ihn an seine Mutter. Das Zimmer war unberührt, die Möbel am gewohnten Platze geblieben, ein Fingerhut lag neben einer Stickerei auf einem Tischchen. Auf dem Kamin zeigte die stehengebliebene Stutzuhr auf sieben Uhr siebenunddreißig Minuten, die letzte Stunde. Er vermied es, dort einzutreten. Dann wieder, wenn er hastig die Treppe hinaufstieg, trieb ihn ein plötzlicher Entschluß dort hinein. Das Herz klopfte ihm in mächtigen Schlägen, es schien ihm, als hätten die alten, wohlbekannten Möbel, der Schreibsekretär, das Spiegeltischchen und besonders das Bett eine sie verwandelnde Erhabenheit angenommen. Durch die beständig geschlossenen Vorhänge drang ein bleicher Schimmer, dessen unbestimmtes Licht Lazares Verwirrung erhöhte, während er das Kopfkissen küßte, auf dem das Haupt der Verblichenen erkaltet war. Eines Morgens, als er eintrat, wurde er tief ergriffen: durch die weitgeöffneten Vorhänge drang in breiten Lichtströmen der helle Tag, eine fröhliche Decke von Sonnenschein hatte sich über das Bett bis zum Kopfkissen gebreitet; auf den Möbeln standen in allen aufzutreibenden Gefäßen Blumen. Da erinnerte er sich, daß ein Jahrestag gefeiert wurde, der Geburtstag derjenigen, die nicht mehr da war, ein Tag, der alle Jahre festlich begangen wurde, den seine Base nicht aus dem Gedächtnis verloren hatte. Es waren nur armselige Herbstblumen, Astern, Gänseblümchen, die letzten schon vom Frost berührten Rosen, aber es sprach dennoch das Leben aus ihnen, sie umschlossen mit ihren heiteren Farben den toten Rahmen, in dem die Zeit stille zu stehen schien. Diese fromme Aufmerksamkeit erschütterte ihn. Er weinte lange.
    Auch das Eßzimmer, die Küche, selbst die Terrasse waren voll von seiner Mutter. Er fand sie in den kleinsten Gegenständen, die er auflas, in Gewohnheiten, die ihm plötzlich fehlten. Das wurde ihm zu einer beständigen Plage, aber er sprach nicht davon, ein unstetes Schamgefühl ließ ihn die stündlichen Qualen, die beständige Unterhaltung mit der Toten verbergen. Da er sogar den Namen derjenigen auszusprechen vermied, von der er heimgesucht wurde, hätte man glauben können, daß bereits ein Vergessen eingetreten sei, daß er nicht mehr an sie dachte, während doch kein Augenblick verstrich, wo er nicht im Herzen das schmerzliche Zucken einer Erinnerung gefühlt hätte. Nur der Blick seiner Base durchschaute ihn. Dann wagte er zu lügen, er versicherte, seine Lampe bereits um Mitternacht ausgelöscht zu haben, behauptete, in eine Arbeit vertieft gewesen zu sein, und war sogleich aufgebracht, wenn man weitere Fragen an ihn stellte. Sein Zimmer war seine Zuflucht; er stieg dort hinauf, um sich seinen Gedanken hinzugeben. Er fühlte sich ruhiger in diesem Winkel, in dem er aufgewachsen war, weil er dort nicht das Geheimnis seines Leidens den anderen preiszugeben fürchten mußte.
    Von den ersten Tagen an hatte er wohl versucht auszugehen und seine langen Spaziergänge wieder aufzunehmen. Zum mindesten wäre er dann der plumpen Schweigsamkeit der Magd und dem peinlichen Anblick seines niedergeschlagen im Lehnstuhl sitzenden Vaters entgangen, der nicht wußte, was für Zerstreuung er seinen zehn Fingern verschaffen sollte. Aber er hatte eine unbesiegbare Abneigung vor diesen Gängen bekommen, er langweilte sich draußen bis zum Ekel. Dieses Meer mit seinem ewigen Geschaukel, seiner Flut, deren mächtige Wogen zweimal täglich gegen den Strand schlugen, ärgerte ihn wie eine törichte, seinem Schmerze fremde Gewalt, die bereits seit

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