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Die Lebensfreude

Die Lebensfreude

Titel: Die Lebensfreude Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emil Zola
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hatte Horteur mit langwierigen, salbungsvollen Redensarten gerade Chanteau mit dem Gedanken, daß seine Frau verloren sei und es sich nur noch um Stunden handle, vertraut gemacht. Als der Greis seine Nichte verstört, mit roten Augen eintreten sah, erriet auch er sofort die Katastrophe. Sein erster Schrei war:
    »Mein Gott! ich hätte ja nichts weiter gewünscht, als sie noch einmal lebend wiederzusehen... Ach, diese schändlichen Beine! Diese schändlichen Beine!«
    Darüber kam er nicht hinaus. Er weinte schnell trocknende Tränen und stieß schwache Seufzer eines Leidenden aus; bald kam er wieder auf seine Beine zurück und schmähte sie, bis er schließlich sich selbst beklagte. Einen Augenblick erwog man die Möglichkeit, ihn in das erste Stockwerk hinaufzutragen, damit er die Tode umarmen könne; dann aber hielt man, abgesehen von der Schwierigkeit eines solchen Vorhabens, es für gefährlich, ihm die Erregung eines letzten Lebewohls zu verursachen, auf das er übrigens auch nicht bestand. So blieb er im Eßzimmer vor dem in Unordnung gebrachten Damebrett, ohne zu wissen, womit er seine armen kranken Hände beschäftigen solle; er hatte nicht einmal den Kopf, wie er sagte, die Zeitung zu lesen und zu verstehen. Als man ihn zu Bett brachte, mußten ferne Erinnerungen in ihm erwacht sein, denn er weinte lange.
    Es verstrichen zwei lange Nächte und ein endloser Tag, die entsetzlichen Stunden, in denen der Tote noch unter dem Dache des Hauses liegt. Cazenove war nur wiedergekommen, um den Tod zu bescheinigen, wobei er nochmals seiner Überraschung über ein so schnelles Ende Ausdruck gab. Lazare ging in der ersten Nacht nicht schlafen, er schrieb bis zum Morgen Briefe an die fernen Verwandten. Die Leiche mußte nach den Friedhof von Caen in die Familiengruft gebracht werden. Der Doktor hatte verbindlich die Erledigung aller Förmlichkeiten auf sich genommen; in Bonneville selbst war nur eine einzige peinliche zu erfüllen gewesen, die Todesanzeige, die Chanteau in seiner Eigenschaft als Bürgermeister entgegenzunehmen verpflichtet war. Da Pauline kein passendes schwarzes Kleid hatte, stellte sie sich in Eile ein solches aus einem alten Rock und einem Merinoschal zusammen, aus dem sie sich ein Leibchen zurechtschnitt. Die erste Nacht sowie der folgende Tag verstrichen noch in der Aufregung dieser Beschäftigung; aber die zweite Nacht wurde zur endlosen Ewigkeit in der schmerzlichen Erwartung des nächsten Tages. Niemand schloß ein Auge, die Türen blieben offen, angezündete Kerzen standen auf den Treppenstufen und den Möbeln umher; während ein Phenolgeruch bis in die entlegensten Zimmer gedrungen war. Alle im Hause befanden sich mit ausgetrocknetem Munde und unsteten Blicken unter diesem Drucke des Schmerzes; sie hatten einzig und allein das dumpfe Bedürfnis, die Lebenstätigkeit wieder aufzunehmen.
    Endlich begann am nächsten Morgen um zehn Uhr die Glocke der kleinen Kirche auf der andern Seite des Weges zu läuten. Aus Rücksicht auf den Abbé Horteur, der sich bei dieser traurigen Gelegenheit als braver Mann gezeigt, hatte man beschlossen, die religiöse Feier in Bonneville vor der Überführung der Leiche nach dem Kirchhofe von Caen zu begehen. Sowie Chanteau die Glocke hörte, wurde er in seinem Lehnsessel lebendig.
    »Ich will sie wenigstens fortbringen sehen«, wiederholte er. »Ach, diese schändlichen Beine. Was ist das für ein Elend mit solchen Schandbeinen!«
    Vergebens versuchte man, ihn von dem Schauspiele fernzuhalten. Die Glocke läutete schneller, er wurde ärgerlich und schrie:
    »Rollt mich in den Flur. Ich höre sehr wohl, daß man sie herunterbringt... Gleich... Gleich... Ich will sie fortbringen sehen.«
    Pauline und Lazare mußten in tiefer Trauer und bereits behandschuht ihm gehorchen. Einer rechts, die andere links, schoben sie den Lehnstuhl bis zum Fuße der Treppe. In der Tat brachten vier Männer die Leiche herunter, deren Gewicht ihnen fast die Glieder zerbrach. Als der Sarg erschien mit seinem neuen Holze, den leuchtenden Griffen und seinem frisch gravierten kupfernen Schilde, machte Chanteau eine unwillkürliche Anstrengung sich zu erheben; aber seine bleiernen Beine nagelten ihn fest, er mußte in dem Lehnstuhl sitzen bleiben, von einem derartigen Zittern befallen, daß seine Kinnladen ein leises Geräusch von sich gaben, als spreche er mit sich selbst. Die schmale Treppe erschwerte das Niedersteigen, er sah diesen großen gelben Kasten langsam näher kommen, und als er ihm die

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