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Die Lebensfreude

Die Lebensfreude

Titel: Die Lebensfreude Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emil Zola
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tiefe Verzweiflung, eine so heftige Scham über diesen Sieg erfaßte sie, daß sie sich entkleidete und niederlegte, ohne das Licht anzuzünden. Der Gedanke, sich nackt in den abgerissenen Kleidern zu sehen, erfüllte sie mit einer entsetzlichen Verlegenheit. Die Frische der Bettücher beruhigte ein wenig das Brennen der Küsse, die ihre Schultern verfärbten; sie blieb lange bewegungslos liegen, unter der Last des Widerwillens und des Kummers wie zerschmettert.
    Die Schlaflosigkeit hielt Pauline bis zum Morgen wach. Diese Abscheulichkeit verfolgte sie. Der ganze Abend war ein Verbrechen, das ihr Entsetzen einflößte. Jetzt konnte sie nicht mehr sich selbst entschuldigen, sie mußte die Doppelzüngigkeit ihrer Zärtlichkeiten wohl oder übel bekennen. Ihre mütterliche Neigung für Lazare, ihre heimliche Anschuldigung Luisens waren einfach das heuchlerische Erwachen ihrer alten Leidenschaft. Sie war zu diesen Lügen herabgeglitten; sie stieg noch tiefer in die uneingestandenen Gefühle ihres Herzens hinab, in dem sie eine Freude über die Zwietracht des Paares, eine Hoffnung auf einen möglichen Vorteil daraus entdeckte. War sie es nicht gewesen, die dazu beigetragen hatte, daß ihr Vetter die Tage von früher wieder begann? Hätte sie nicht voraussehen müssen, daß der Fall das Ende sei? Das Schreckliche der Lage bäumte sich in dieser Stunde vor ihnen auf wie ein Hindernis in ihrer aller Leben: sie hatte ihn einer anderen gegeben, sie betete ihn an, und er begehrte sie. Alles das wälzte sich in ihrem Hirn, schlug wie mit Glockenschlägen an ihre Schläfen. Zuerst war sie entschlossen, am folgenden Tage zu fliehen. Dann fand sie diese Flucht feige. Warum nicht warten, da er doch selbst wieder fortging? Außerdem überkam sie ein Stolz, sie wollte sich besiegen, um nicht die Schande einer bösen Tat mit sich fortzunehmen. Sie fühlte, daß sie in Zukunft nicht mehr mit erhobenem Kopfe werde leben können, wenn sie die Gewissensbisse wegen dieses Abends bewahre.
    Am nächsten Morgen kam Pauline zur gewohnten Stunde herunter. Nur der bläuliche Rand an ihren Augenlidern hätte die Qualen der Nacht bezeugen können. Sie war bleich und sehr ruhig. Als Lazare erschien, erklärte er sein mattes Aussehen seinem Vater einfach dadurch, daß er bis in die späte Nacht gearbeitet habe. Der Tag verstrich unter den gewohnten Beschäftigungen. Weder der eine noch die andere machte eine Anspielung auf das, was zwischen ihnen geschehen war, selbst dann nicht, als sie sich außerhalb des Bereiches der Augen und Ohren dritter befanden. Als sie sich aber des Abends auf dem Flur gute Nacht wünschten, stürzten sie einander ungestüm in die Arme und küßten sich voll auf den Mund. Und Pauline schloß sich entsetzt ein, während Lazare in sein Zimmer floh und sich weinend auf das Bett warf.
    Das war jetzt ihr Leben. Die Tage folgten langsam aufeinander, und sie harrten Seite an Seite in der angstvollen Erwartung eines möglichen Fehltritts. Ohne je den Mund über diese Dinge zu öffnen, ohne je wieder von der schrecklichen Nacht gesprochen zu haben, dachten sie dennoch unaufhörlich daran, sie fürchteten miteinander niederzustürzen, gleichviel wo, wie vom Blitze getroffen. Werde es am Morgen beim Aufstehen oder am Abend beim Austausch der letzten Worte sein? Werde es bei ihm oder bei ihr, oder in einem abgelegenen Winkel des Hauses geschehen? Das nur blieb dunkel. Sie bewahrten ihre Besinnung vollkommen, jede plötzliche Hingabe, jede Tollheit eines Augenblicks, die verzweifelten Umarmungen hinter einer Tür, die glühenden, im Dunkel geraubten Küsse erfüllten sie mit einem schmerzlichen Zorn. Der Boden bebte unter ihren Füßen, sie klammerten sich an die Entschlüsse ruhiger Stunden, um nicht in diesem Strudel zu versinken. Aber keines von beiden hatte die Kraft, zu dem einzigen Heil zu greifen, der sofortigen Trennung. Sie hielt unter dem Vorwande der Tapferkeit angesichts der Gefahr hartnäckig aus. Er, ganz gefangen genommen, dem ersten Ungestüm eines neuen Abenteuers nachgebend, beantwortete nicht einmal mehr die dringenden Briefe seiner Frau. Er befand sich schon seit sechs Wochen in Bonneville, und es war ihnen, als solle dieses Leben voller grausamer und köstlicher Erregungen ewig währen.
    Eines Sonntags beim Mittagessen wurde Chanteau heiter, nachdem er ein Glas Burgunder getrunken, eine Ausschweifung, die er jedesmal teuer bezahlte. An jenem Tage hatten Lazare und Pauline reizende Stunden am Meere unter dem weiten,

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