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Die Lebensfreude

Die Lebensfreude

Titel: Die Lebensfreude Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emil Zola
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Meistens endete der Streit auch mit einem Unterricht; er vervollkommnete ihre Belehrung als junger, über das Herkommen erhabener Chemiker. Sie wußte schon zuviel, um nicht auch den Rest hören zu können. Überdies vollzog sich durch stetes Lesen eine langsame Arbeit in ihr, sie verknüpfte nach und nach das Gehörte und Gesehene, voller Ehrerbietung indessen für Frau Chanteau, deren wohlanständige Lügen sie des ferneren mit ernster Miene anhörte. Nur vor ihrem Vetter in dem großen Gemach wurde sie zum Jungen, zum Präparator, dem er zurief:
    »Hast du diese Floridea gesehen?... Sie hat nur ein Geschlecht.«
    »Ja, ja,« erwiderte sie, »männliche Organe in großen Büscheln.«
    Dennoch befiel sie eine geheime Verlegenheit. Wenn Lazare sie manchmal brüderlich anstieß, war es ihr einige Augenblicke, als solle sie ersticken, und ihr Herz klopfte heftig. Das Weib, das sie beide vergaßen, erwachte in ihrem Fleische mit dem Triebe ihres Blutes. Eines Tages stieß er sie beim Umdrehen mit dem Ellenbogen. Sie schrie laut und fuhr mit der Hand nach der Brust. Was war's? Hatte er ihr wehe getan? Aber er hatte sie ja kaum berührt; und mit einer natürlichen Bewegung wollte er das Halstuch lüften, um nachzusehen. Sie war zurückgetreten, sie standen sich verlegen mit einem gezwungenen Lächeln gegenüber. An einem anderen Tage weigerte sie sich während eines Experimentes, ihre Hände in kaltes Wasser zu tauchen. Er war erstaunt, ärgerlich: Warum? Was für eine wunderliche Laune? Wenn sie ihm nicht helfen wollte, wäre es besser, sie gehe hinunter. Als er sie erröten sah, verstand er und schaute sie mit aufgerissenen Augen an. So war dieses Ding, dieser jüngere Bruder also wirklich ein Weib? Man konnte sie nicht streifen, ohne daß sie einen Schrei ausstieß; man durfte nicht mehr an allen Tagen des Monats auf sie rechnen! Bei jedem neuen Vorfall gab es ein Staunen, als verwirre und errege eine unvorhergesehene Entdeckung den einen und die andere in ihrer knabenhaften Kameradschaft. Lazare schien sich davon nur gelangweilt zu fühlen. Da sie kein Mann war und ein Nichts sie außer Fassung brachte, war es unmöglich, weiter miteinander zu arbeiten. Pauline hingegen behielt ein gewisses Unbehagen, eine Beängstigung zurück, aus der ein wunderbarer Liebreiz aufkeimte.
    Von diesem Augenblicke an entwickelten sich in dem Mädchen Empfindungen, von denen sie mit niemandem sprach. Sie log nicht, sie schwieg einfach aus besorgtem Stolze und auch aus Scham. Öfters glaubte Pauline leidend zu sein, vor dem Beginn einer schweren Krankheit zu stehen, denn sie legte sich fiebernd zu Bette, sie glühte vor Schlaflosigkeit und wurde völlig fortgerissen von dem dumpfen Toben des Unbekannten, das über sie gekommen. Am Tage fühlte sie sich nur wie zerschlagen, sie klagte ihren Zustand nicht einmal ihrer Tante. Es kamen wieder plötzliche Anfälle von Hitze, eine nervöse Erregung, unvermutete, sie in Aufruhr versetzende Gedanken und ganz besonders Träume, aus denen sie aufgebracht gegen sich selbst erwachte. Ihre Lektüre, diese leidenschaftlich gelesene Anatomie und Physiologie, hatten in ihr eine derartige Jungfräulichkeit des Körpers zurückgelassen, daß sie bei jeder neuen Erscheinung in kindliches Staunen verfiel. Erst das Nachdenken beruhigte sie: sie war nichts besonderes; sie mußte darauf gefaßt sein, zu sehen, daß dieser für die anderen gemachte Mechanismus des Lebens auch in ihr selbst zu arbeiten begann. Eines Abends nach der Mahlzeit stritten sie über die Torheit der Träume: war das nicht ärgerlich, so wehrlos auf dem Rücken liegen und die Beute wunderlicher Vorstellungen sein zu müssen? Es erbitterte sie besonders, daß im Schlafe ihr Wille tot, ihre Person vollständig ohnmächtig war. Ihr Vetter mit seinen pessimistischen Ansichten griff die Träume ebenfalls an, da sie die vollkommene Glückseligkeit des Nichts stören; während ihr Onkel einen Unterschied machte zwischen angenehmen Träumen, die er liebte, und den Alpdrücken des Fiebers, die er verabscheute. Aber sie steifte sich so fest darauf, daß Frau Chanteau sie ganz erstaunt fragte, was sie denn in der Nacht sehe. Da stammelte sie: nichts, wunderliches Zeug, zu verschwommene Dinge, um eine genaue Erinnerung daran zu bewahren. Sie log auch damit nicht, ihre Träume zogen in einem Zwielicht vorüber, es streiften sie Erscheinungen, ihr weibliches Geschlecht erwachte zum fleischlichen Leben, ohne daß je ein deutliches Bild ihre Empfindung

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