Die Legende
Ich war so erschöpft von den Ereignissen der vergangenen Tage, dass mein Geist jegliche Gedanken an Roberts Schicksal und die unerfreulichen Geschehnisse in Mullendorf einfach ausblendete und meinen Körper in einen an Bewusstlosigkeit grenzenden Schlummer versinken ließ. Dafür erwachte ich am nächsten Morgen zwar erfrischt, aber umso besorgter. Was war inzwischen mit Robert passiert? Wohin hatten sie ihn gebracht? Lebte er überhaupt noch?
Mein Hirn arbeitete erneut auf Hochtouren. Ich musste unbedingt einen Weg finden, Robert zu helfen, ihn womöglich zu befreien. Aber das schaffte ich nicht alleine. Ich brauchte Verstärkung.
Nach dem Frühstück ging ich zuerst zur Kirche, doch Leif war nicht mehr da. Verloren sah ich mich um, ob er vielleicht einen Hinweis hinterlassen hatte, wo er zu finden war, doch umsonst. Vielleicht war er nur Besorgungen machen und kam gleich wieder? Der Gedanke war absurd, nichtsdestotrotz setzte ich mich für ein Weilchen auf die Kirchenbank und wartete auf ihn. Erneut hatte ich Zeit, meinen Gedanken nachzuhängen. Zuerst musste ich herausfinden, wohin Robert gebracht worden war. Wer konnte mir das sagen? Einer von den AVEKs? Der würde wohl kaum mit mir darüber sprechen. Wenn er es überhaupt wusste. Ein Beamter im Vampircenter vielleicht? Dort regelten sie alle Angelegenheiten Vampire betreffend, von der ersten Sichtung bis zur Endlösung. Jeder neu entdeckte und gemeldete Vampir wurde einem Fallmanager zugewiesen, der sich um ihn und seine Ergreifung kümmerte, bis er sicher in einem Lager verstaut war. Bis zu zehn Fälle durfte einer dieser Beamten betreuen, in großen Städten wie Berlin sehr viel mehr. Dort waren die Center hoffnungslos überfordert. Roberts Fallmanager wusste mit Sicherheit, wo der ehemalige Arzt jetzt steckte. Fraglich war, ob er mir das mitteilen würde – gesetzt den Fall, ich fand überhaupt heraus, wer für ihn verantwortlich war. In jeder größeren Stadt befand sich ein Vampircenter, für Mullendorf war Gallburg zuständig. Ich konnte hingehen und vorgeben, dass Robert mir noch Geld schuldete und den Beamten so lange nerven, bis er mir mitteilte, wie ich an Robert und damit an mein Geld kam. Oder ich konnte ihm auf dem Heimweg nach der Arbeit auflauern und foltern, bis er mir eine Karte mit Roberts Aufenthaltsort zeichnete. Beide Varianten gefielen mir nicht sonderlich gut. Ich brauchte weitere Ideen. Ich sah auf die Uhr. Der Morgen war schon weit fortgeschritten, doch Leif nicht aufgetaucht. Ich musste unbedingt die Tankstelle öffnen. Also erhob ich mich seufzend und ging hinaus ins Freie.
Es regnete leicht, als ich an der Tankstelle ankam. Deshalb sah ich auch sofort die Fußspuren im Laden. Jemand musste die Tür geöffnet haben und hier eingedrungen sein, jemand mit Schlüssel oder solch fundierten Kenntnissen im Schlösserknacken, dass ich an der Tür keine Einbruchsspuren feststellen konnte.
Ich bewaffnete mich mit einem dieser spitzen Regenschirme mit Tankstellenlogo, die wir am Eingang des Ladens zum Verkauf anboten, und ging hinein.
»Hallo?«, rief ich. »Ist da jemand?« Doch es erfolgte keine Antwort.
»Hallo?«, rief ich erneut.
Wieder nichts. Stattdessen hörte ich aus dem Inneren des Gebäudes ein leises Rumpeln. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Hatte Karen eigentlich ihren Schlüssel abgegeben oder wartete sie jetzt auf mich, um ihr Werk zu vollenden und an mir bittere Rache zu üben, weil ich ihr den Fang verdorben hatte?
Ich näherte mich der Stelle, von wo ich das Geräusch gehört hatte. »Karen, bist du das? Ich bin bewaffnet.«
Doch Karen antwortete nicht. Stattdessen hörte ich Leifs tiefe Stimme. »Wenn du nochmal den Namen dieser verdammten Person in den Mund nimmst, häute ich dich bei lebendigem Leib. Und trinke dein Blut, bis nichts mehr übrig ist.«
Er trat aus dem Schatten und stand nun vor mir. Er sah hungrig aus. Doch ich ignorierte seine Drohung und ließ den Schirm sinken.
»Bist du verrückt, Leif? Was machst du hier? Wenn sie dich erwischen, bist du tot.«
»Dieses Versteck ist genauso gut wie jedes andere. Außerdem waren sie schon hier. Sie werden vermutlich nicht so schnell wiederkommen. Allerdings hat jemand ins Vorratslager gekotzt. Weißt du was davon?«
Ich erinnerte mich an meine gestrige Übelkeit, als ich mir den Kopf gestoßen hatte. »Das war ich. Ich hatte noch keine Gelegenheit, es wegzumachen, weil ich dich warnen musste.«
»Es stinkt, denk bitte daran, es wegzuwischen. Hast du sie von
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