Die Legende
Augen. Die Pupillen waren klein, unnatürlich klein.
»Die meisten Männer wollen«, flüsterte sie und schmiegte sich noch näher an ihn.
»Ich bin nicht die meisten Männer.«
»Bist du ausgetrocknet?«
»Vielleicht.«
»Oder sind es Knaben, nach denen es dich gelüstet? Wir haben ein paar hübsche Männer in unserer Bande.«
»Nein, ich kann nicht behaupten, daß es mich je zu einem Mann gezogen hätte. Aber ich hatte einst eine wirkliche Frau, und seitdem habe ich nie mehr eine andere gebraucht.«
Sie trat einen Schritt zurück. »Ich habe ein heißes Bad für dich richten lassen, und ich möchte, daß du darin bleibst, bis das Wasser abkühlt. Dann kann das Blut leichter durch deine müden Muskeln fließen.« Damit drehte sie sich um und war fort. Einige Augenblicke starrte Druss die Tür an; dann setzte er sich aufs Bett und kratzte sich den Bart.
Das Mädchen beunruhigte ihn. Da war etwas in ihren Augen: Druss hatte noch nie gut mit Frauen umgehen können; er war nicht so sensibel wie manche Männer. Für ihn gehörten Frauen einer anderen Rasse an, fremd und furchterregend. Aber dieses Kind war anders – in ihren Augen stand Wahnsinn, Wahnsinn und Angst. Er zuckte die Achseln und tat, was er immer getan hatte, wenn ein Problem sich ihm entzog; er vergaß es.
Nach dem Bad zog er sich rasch an, kämmte Bart und Haar, verschlang dann ein hastiges Frühstück im Eldibar-Kasino und gesellte sich zu den fünfzig Freiwilligen auf den Wehrgängen, als die ersten Sonnenstrahlen den Morgennebel durchdrangen. Es war kühl und frisch; es würde Regen geben. Unten sammelten sich die Nadir; mit hochbeladenen Karren voller Steine zogen sie langsam zu den Katapulten. Um ihn herum wurde wenig geredet – an solchen Tagen richteten sich die Gedanken eines Mannes nach innen. Werde ich heute sterben? Was macht meine Frau jetzt? Warum bin ich hier?
Weiter entfernt auf der Brustwehr waren Orrin und Hogun. Orrin sagte nur wenig und überließ es dem Legionsgeneral, Scherze mit den Männern zu machen oder Fragen zu stellen. Er verübelte Hogun seinen lockeren Umgangston mit den Soldaten, aber nicht zu sehr; wahrscheinlich war es mehr Bedauern als Übelnehmen.
Ein junger Cul – Bregan? – sorgte dafür, daß Orrin sich besser fühlte, als sie an einer kleinen Gruppe nahe dem Torturm vorbeikamen.
»Wirst du heute mit Karnak kämpfen, Gan?« fragte er.
»Ja.«
»Danke, Gan. Das ist eine große Ehre für uns alle.«
»Nett von dir, das zu sagen«, erwiderte Orrin.
»Nein, ich meine es wirklich ernst«, sagte Bregan. »Wir haben heute nacht darüber gesprochen.«
Verlegen und erfreut lächelte Orrin und ging weiter.
»Nun«, begann Hogun, »das ist eine größere Verantwortung, als Vorräte zu überprüfen.«
»ln welcher Hinsicht?«
»Sie respektieren dich. Und der Mann da verehrt dich als Held. Es ist nicht leicht, damit zu leben. Sie werden neben dir stehen, wenn alle anderen längst geflohen sind. Oder sie werden mit dir fliehen, wenn alle anderen bleiben.«
»Ich werde nicht davonlaufen, Hogun.«
»Ich weiß. Das habe ich auch nicht gemeint. Für einen Mann gibt es Zeiten, da möchte er sich hinlegen oder aufgeben oder einfach weglaufen. Das bleibt meist dem einzelnen überlassen. Aber in diesem Fall bist du kein Einzelner mehr. Du bist fünfzig. Du bist Karnak. Das ist eine große Verantwortung.«
»Und was ist mir dir?« fragte Orrin.
»Ich bin die Legion«, kam die schlichte Antwort.
»Ja, ich glaube, das bist du wirklich. Hast du Angst vor dem heutigen Tag?«
»Natürlich.«
»Das freut mich«, sagte Orrin lächelnd. »Ich wäre nicht gern der einzige gewesen.«
Wie Druss vorausgesagt hatte, brachte der Tag neue Schrecken: Steingeschosse zerstörten Abschnitte der Brustwehr, dann das furchtbare Kriegsgeschrei und der stürmische Angriff mit Leitern auf die Mauer, eine johlende Horde, die die Granitwand erklomm, um sich dem silbernen Stahl der Drenai entgegenzuwerfen. Heute waren die dreitausend Kämpfer von Musif, Mauer Zwei, an der Reihe, um die Krieger abzulösen, die am Vortag so lange und schwer gekämpft hatten.
Schwerter klirrten, Männer schrien und stürzten, und das Chaos wütete endlose Stunden. Druss stapfte über die Mauer wie ein wilder Riese, blutbespritzt und grimmig. Seine Axt lichtete die Reihen der Nadir; seine Flüche und groben Schmähungen brachten sie dazu, sich auf ihn zu konzentrieren. Rek kämpfte wie am Vortag, mit Serbitar Seite an Seite, aber jetzt waren noch
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