Die Legende
Männer eine Stunde vor Sonnenaufgang auf Musif zurückziehen. Wenn der Angriff nachläßt, rücken wir wieder vor.«
»Und was ist«, wandte Orrin ein, »wenn sie ihren zweiten Angriff schon bei Morgengrauen unternehmen? Dann werden sie über die Mauer sein, ehe unsere Truppen die Wehrgänge erreichen.«
»Das haben sie nicht vor«, erklärte der Albino schlicht.
Orrin war nicht überzeugt, fühlte sich jedoch in Serbitars Gegenwart unbehaglich. Rek bemerkte das.
»Glaub mir, mein Freund. Die Dreißig haben Kräfte, die weit über die normaler Menschen hinausgehen. Wenn er es sagt, dann ist es auch so.«
»Wir werden sehen, Graf«, sagte Orrin zweifelnd.
»Wie geht es Druss?« fragte Virae. »Als ich ihn bei Sonnenuntergang sah, wirkte er ziemlich erschöpft.«
»Caessa hat sich um ihn gekümmert«, berichtete Hogun, »und sie sagt, er wird es schon schaffen. Er ruht sich im Lazarett aus.«
Rek schlenderte zum Fenster, öffnete es und atmete tief die frische Nachtluft ein. Von hier aus konnte er bis weit ins Tal hinabsehen, wo die Lagerfeuer der Nadir flackerten. Sein Blick blieb auf dem Eldibar-Lazarett hängen, in dem noch immer die Lampen brannten.
»Wer möchte schon Arzt sein?« meinte er.
In Eldibar bewegte sich Calvar Syn, angetan mit einer blutbespritzten ledernen Schürze, wie ein Schlafwandler. Müdigkeit saß ihm tief in den Knochen, während er von Bett zu Bett ging und Arzneien verteilte.
Der Tag war für den kahlen, einäugigen Arzt ein Alptraum gewesen – mehr als ein Alptraum. Im Laufe von dreißig Jahren hatte er schon viele Male den Tod gesehen. Er hatte Männer sterben sehen, die hätten leben sollen, Männer, die Verwundungen überstanden, die sie eigentlich auf der Stelle hätten töten müssen. Und oft hatten seine eigenen besonderen Fertigkeiten den Tod abgewehrt, wo andere nicht einmal die Blutungen hätten stillen können. Aber heute war der schlimmste Tag seines Lebens gewesen. Vierhundert starke junge Männer, am Morgen noch gesund und in voller Blüte, jetzt nur noch faulendes Fleisch. Zahlreiche andere hatten Glieder oder Finger verloren. Die Schwerverletzten hatte man nach Musif geschafft. Die Toten hatte man hinter Mauer Sechs gekarrt, um sie vor den Toren zu begraben.
Um den müden Arzt herum schütteten seine Helfer eimerweise gesalzenes Wasser auf den Fußboden, um die Spuren der Qualen fortzuschrubben.
Calvar Syn ging schweigend in Druss’ Zimmer und starrte auf die schlafende Gestalt hinab. Neben dem Bett hing Snaga, der silberne Töter. »Wie viele noch, du Schlächter?« sagte Calvar. Der alte Mann regte sich, wachte jedoch nicht auf.
Der Arzt taumelte in den Flur hinaus und ging auf sein Zimmer. Dort warf er die Schürze auf einen Stuhl und fiel aufs Bett. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, die Decke über sich zu ziehen. Doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Alptraumhafte Bilder von Qualen und Entsetzen zuckten durch seine Gedanken, und er begann zu schluchzen. Ein Gesicht tauchte auf, alt und milde. Das Gesicht wurde größer, saugte seinen Kummer auf und strahlte Harmonie aus. Größer und größer wurde es, bis es wie eine warme Decke seinen Schmerz zudeckte. Und er schlief, tief und traumlos.
»Er ruht jetzt«, sagte Vintar, als Rek sich vom Fenster abwandte.
»Gut«, sagte Rek. »Morgen wird er nicht viel Ruhe finden. Serbitar, ist dir noch etwas zu unserem Verräter eingefallen?«
Der Albino schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was wir tun können. Wir kontrollieren die Lebensmittel und die Brunnen. Es gibt keinen anderen Weg, uns zu schaden. Du wirst bewacht, ebenso Druss und Virae.«
»Wir müssen ihn finden«, erklärte Rek. »Kannst du nicht in die Gedanken jedes einzelnen in der Festung eindringen?«
»Natürlich. Wir hätten auch bestimmt innerhalb von drei Monaten die Antwort.«
»Ich verstehe«, sagte Rek bedauernd.
Khitan beobachtete schweigend, wie der Rauch von seinen Türmen aufstieg. Sein Gesicht war ausdruckslos, die Augen dunkel umwölkt. Ulric kam zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Es ist nur Holz, mein Freund.«
»Ja, Herr. Ich dachte gerade, daß wir in Zukunft eine falsche Vorderseite aus eingeweichten Häuten brauchen. Das dürfte nicht allzu schwierig sein, obwohl das zusätzliche Gewicht ein Problem für die Stabilität bedeuten könnte.«
Ulric lachte. »Ich dachte, ich finde dich gebeugt vor Gram. Statt dessen planst du bereits wieder.«
»Ich komme mir dumm vor«, antwortete
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