Die Legende
Disziplin nachließ, und zwei der Brücken brachen unter dem Ansturm der Soldaten zusammen.
Auf Kania, Mauer Drei, wartete Rek, solange er es wagte. Dann befahl er, die Feuergräben in Brand zu schießen. Druss, Orrin und Hogun konnten sich gerade noch rechtzeitig in Sicherheit bringen, als die Flammen aufzüngelten. Doch jenseits des Grabens kämpften mehr als achthundert Drenaikrieger ohne alle Hoffnung weiter, in dichten Gruppen, die von Augenblick zu Augenblick kleiner wurden. Viele auf Kania wandten sich ab, denn sie konnten nicht ertragen, mit anzusehen, wie ihre Freunde vergebens kämpften. Rek stand mit geballten Fäusten da und schaute voller Verzweiflung zu. Der Kampf währte nicht lange. Hoffnungslos unterlegen, wurden die Drenai überrannt, und Tausende von Stammeskriegern stimmten ein Siegeslied an.
Sie sammelten sich singend vor den Flammen, blutige Schwerter und Äxte schwingend. Nur wenige auf der Mauer verstanden die Worte, aber das war auch nicht nötig. Die Botschaft war unmißverständlich, die Bedeutung klar. Es traf Herz und Seele mit erschreckender Deutlichkeit.
»Was singen sie?« fragte Rek Druss, als der alte Mann nach der mühsamen Kletterei wieder zu Atem kam. »Es ist ihr Lied des Ruhms:
Nadir sind wir,
der Jugend geboren,
Blut wird vergossen und Äxte geschwungen,
doch Sieger sind wir.«
Jenseits des Feuers stürmten die Stammeskrieger das Feldlazarett, erschlugen Männer in ihren Betten und zerrten andere hinaus in die Sonne, wo ihre Kameraden auf der Mauer sie sehen konnten. Dann wurden sie mit Pfeilen gespickt oder langsam verstümmelt. Einer wurde sogar an die Fensterläden des Gebäudes genagelt, wo er schreiend zwei Stunden lang hing, ehe man ihm den Bauch aufschlitzte und den Kopf abschlug.
Die toten Drenai wurden, ihrer Waffen und Rüstungen beraubt, in die Feuergräben geworfen. Der Gestank nach brennendem Fleisch erfüllte die Luft; beißender Qualm brannte in den Augen.
Die Evakuierung an den Südtoren wurde zu einer wahren Flut, als die Stadt sich leerte. Soldaten schlossen sich an, warfen ihre Waffen weg und mischten sich unter die Menge. Auf einen direkten Befehl von Rek hin hielt niemand sie auf. In einem kleinen Haus nahe der Müllergasse versuchte Maerie, das Kleinkind zu trösten, das in ihren Armen schluchzte. Der Lärm auf den Straßen ängstigte sie. Es waren Familien, die ihre Habseligkeiten auf Karren und Wagen luden, vor die Ochsen oder Milchkühe gespannt waren. Es war ein Höllenlärm.
Maerie drückte das Kind an sich, summte ein Schlaflied und küßte die dichten Locken.
»Ich muß zurück auf die Mauer«, sagte ihr Mann, ein großer junger Krieger mit dunklem Haar und großen, sanften blauen Augen. Wie müde er aussieht, hohläugig und ausgemergelt, dachte Maerie.
»Geh nicht, Carin«, bat sie, als er den Schwertgürtel umlegte.
»Ich muß.«
»Laß uns Delnoch verlassen. Wir haben Freunde in Purdol, und du könntest dort Arbeit finden.«
Er war kein einfühlsamer Mann und bemerkte die Verzweiflung in ihrer Stimme nicht, sah nicht die aufsteigende Panik in ihren Augen.
»Laß dir durch diese Narren keine Angst einjagen, Maerie. Druss ist noch immer bei uns, und wir werden Kania halten. Das verspreche ich dir.«
Das schluchzende Kind klammerte sich an den Rock der Mutter, beruhigt von der sanften Kraft in der Stimme des Vaters. Zu jung, um die Worte zu verstehen, wurde es durch Tonfall und Stimme getröstet. Der Lärm draußen ließ nach, und es schlief an der Schulter der Mutter ein. Aber Maerie war älter und klüger als das Kind, und für sie waren die Worte nichts als Worte. »Hör mir zu, Carin. Ich will weg von hier. Heute!«
»Ich habe jetzt keine Zeit. Ich muß zurück. Bis später. Es wird alles gut.« Er küßte sie; dann ging er hinaus in das Chaos auf den Straßen.
Sie sah sich um und erinnerte sich: Die Truhe an der Tür war ein Geschenk von Carins Eltern. Die Stühle hatte ihr Onkel Damus gemacht; sie waren so sorgfältig hergestellt wie alle seine Arbeiten. Sie hatten die Stühle und die Truhe vor zwei Jahren mit hierhergebracht.
Gute Jahre?
Carin war freundlich, rücksichtsvoll und lieb. Er besaß so viel Güte. Sie setzte das Kind in sein Stühlchen und ging in das kleine Schlafzimmer. Sie schloß das Fenster vor dem Lärm. Bald würden die Nadir kommen. Sie würden die Tür einschlagen, und dreckige Stammeskrieger würden ihr die Kleider vom Leib reißen …
Sie schloß die Augen.
Druss war immer noch bei ihnen,
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