Die Legende
Druss bedrückte. Er genoß die Weisheit seiner sechzig Jahre, das Wissen und den Respekt, den es ihm eintrug. Doch die körperlichen Verwüstungen, die die Zeit anrichtete, waren etwas ganz anderes. Seine Schultern waren noch immer mächtig über der breiten Brust, aber die Muskeln hatten ein angespanntes Aussehen angenommen – drahtige Linien, die sich im Zickzack über seinen Rücken zogen. Auch seine Taille war während des letzten Winters spürbar umfangreicher geworden. Und fast über Nacht, stellte er fest, war sein schwarzer Bart grau geworden, mit schwarzen Sprenkeln darin. Die durchdringenden Augen jedoch, die ihr Abbild in dem silbernen Spiegel anstarrten, waren noch so klar wie früher. Ihr Blick hatte ganze Armeen in Schrecken versetzt, hatte heldenhafte Gegner dazu gebracht, errötend und beschämt zurückzutreten, hatte die Phantasie von Menschen angeregt, die ihre Helden brauchten.
Er war Druss die Legende. Der unbesiegbare Druss, Meister der Axt. Die Legende seines Lebens wurde überall den Kindern erzählt – und das meiste davon ist tatsächlich nur Legende, überlegte Druss. Druss, der Held, unsterblich, göttergleich.
Seine vergangenen Siege hätten ihm einen Palast voller Reichtümer und Scharen von Konkubinen sichern können. Fünfzehn Jahre, bevor Abalayn ihn unter einem Regen von Edelsteinen begraben hatte, nach seinen Taten am Skeln-Paß.
Aber am nächsten Morgen war Druss in die Skoda-Berge zurückgekehrt, hoch in das einsame Land dicht unter den Wolken. Inmitten der Pinien und Schneeleoparden war der graue, alte Krieger in sein Nest zurückgekehrt, um wieder die Einsamkeit zu kosten. Seine Frau, die dreißig Jahre bei ihm gewesen war, lag dort begraben. Er hatte vor, auch hier zu sterben, obwohl er wußte, daß niemand da sein würde, um ihn zu begraben.
Während der letzten fünfzehn Jahre war Druss nicht untätig gewesen. Er hatte verschiedene Länder durchwandert und Kampftruppen für kleinere Fürsten geführt. Im letzten Winter war er in sein Bergdomizil zurückgekommen, um dort nachzudenken und zu sterben. Er wußte schon lange, daß er in seinem sechzigsten Jahr sterben würde – schon vor der Prophezeiung des Sehers vor so vielen Jahrzehnten. Er war imstande gewesen, sich selbst mit sechzig vorzustellen, aber niemals darüber hinaus. Wann immer er versuchte, sich vorzustellen, er wäre einundsechzig, sah er nichts als Dunkelheit.
Seine knorrigen Hände schlossen sich um einen hölzernen Becher und führten ihn an seine von grauem Bart umwucherten Lippen. Der Wein war stark; er selbst hatte ihn vor fünf Jahren gekeltert. Er war jetzt gealtert – besser als er selbst. Aber der Wein war nun aufgebraucht, und er lebte noch – für eine kleine Weile.
Die Hitze in seiner spärlich eingerichteten Hütte wurde drückend, als die Frühlingssonne das Holzdach erwärmte. Langsam zog er die Schaffelljacke aus, die er den ganzen Winter über getragen hatte, und die Unterweste aus Roßhaar. Sein stämmiger Körper, von Narben übersät, verriet sein Alter nicht. Er betrachtete die Narben. Er erinnerte sich deutlich an die Männer, deren Waffen sie geschlagen hatten: Männer, die niemals alt geworden waren wie er, Männer, die in ihrer Blüte gestorben waren unter seiner singenden Axt. Seine blauen Augen wanderten zu der Wand neben der Tür. Dort hing sie, Snaga, was in der alten Sprache ›Schnitter‹ hieß. Ein schlanker Schaft aus schwarzem Stahl, in den mit Silberdraht Runen der Alten eingelassen waren, und eine Doppelklinge, die so geformt war, daß sie beim Schwingen sang.
Selbst jetzt noch konnte er ihr süßes Lied hören. Ein letztesmal noch, Bruder meiner Seele, rief sie ihm zu. Ein letzter blutiger Tag, ehe die Sonne untergeht. Seine Gedanken wanderten wieder zu Delnars Brief zurück. Er war an die Erinnerung gerichtet, nicht an die Menschen.
Druss erhob sich aus dem hölzernen Stuhl und fluchte, als seine Gelenke knirschten. »Die Sonne ist untergegangen«, wisperte der alte Krieger der Axt zu. »Jetzt wartet nur noch der Tod, und das ist ein geduldiger Schurke.«
Er ging aus der Hütte und blickte zu den fernen Bergen hinüber. Seine massige Gestalt und das schwarzgraue Haar waren ein Miniaturspiegelbild der Berge, die er betrachtete. Stolz, stark, alterslos, mit schneebedeckten Kuppen, trotzten sie der Frühlingssonne, die sich mühte, ihnen die winterlichen Hauben aus jungfräulichem Schnee zu nehmen.
Druss sog tief die wilde Pracht in sich hinein, atmete die
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