Die Legende
kühle Brise und kostete das Leben, als wäre es zum letztenmal.
»Wo bist du, Tod?« rief er. »Wo versteckst du dich an einem so herrlichen Tag?« Die Echos hallten in den Tälern wider … TOD, TOD, Tod, Tod … TAG, TAG, Tag, Tag …
»Ich bin Druss! Und ich trotze dir!«
Ein Schatten fiel über Druss’ Augen, die Sonne am Himmel erstarb, und die Berge verschwanden in Nebel. Schmerz krallte sich in seinen Brustkorb, bis tief hinab in seine Seele, so daß er beinahe stürzte.
»Stolzer Sterblicher!« zischte eine schlangengleiche Stimme durch den Schleier der Pein. »Ich habe dich nie gesucht. Du hast mich in all diesen langen, einsamen Jahren gejagt. Bleib hier auf diesem Berg, und ich verspreche dir noch zwei weitere Jahre. Deine Muskeln werden verkümmern, dein Hirn wird erweichen. Du wirst fett werden, alter Mann, und ich werde nur kommen, wenn du darum bettelst. Oder will der Jäger noch eine letzte Jagd? Suche mich, wenn du willst, alter Krieger. Ich stehe auf den Mauern von Dros Delnoch.«
Der Schmerz hob sich vom Herzen des alten Mannes. Er taumelte, sog tief die Bergluft in seine schmerzenden Lungen, und sah sich um. Die Vögel sangen noch immer in den Bäumen; keine Wolke verdeckte die Sonne, und die Berge standen hoch und stolz, wie sie es immer getan hatten. Druss ging in die Hütte zurück und trat an eine Eichentruhe, die er bei Einbruch des Winters geschlossen hatte. Der Schlüssel lag tief unten im Tal. Er legte seine gewaltigen Hände um das Schloß und begann zu drücken. Die Muskeln auf seinen Armen wanden sich. Adern traten an Hals und Schultern hervor. Das Metall ächzte, gab nach und brach. Druss warf das Schloß beiseite und öffnete die Truhe. Darin lag eine Weste aus schwarzem Leder, die Schultern mit schimmerndem Stahl besetzt, dazu eine schwarzlederne Kappe, die nur von einer silbernen Axt geschmückt wurde, die zwei silberne Schädel flankierten. Lange, schwarze Lederhandschuhe kamen zum Vorschein, bis zu den Knöcheln mit Silber besetzt. Rasch zog er sich an, bis er schließlich zu den Lederstiefeln kam – ein Geschenk von Abalayn vor so vielen Jahren.
Zum Schluß griff er nach Snaga, die fast von selbst in seine Hand zu springen schien.
»Noch ein letztesmal, Bruder meiner Seele«, sagte er zu ihr. »Ehe die Sonne untergeht.«
6
Vintar an seiner Seite, beobachtete Serbitar von einem hohen Balkon, wie die beiden Reiter sich dem Kloster näherten und auf das Nordtor zugaloppierten. Kleine Grasflecken zeigten sich an jenen Stellen im Schnee, auf die ein warmer Frühlingswind aus Westen traf.
»Keine Zeit für Liebende«, sagte Serbitar laut.
»Es ist immer Zeit für Liebende, mein Sohn. In Kriegszeiten noch mehr als sonst«, erwiderte Vintar. »Hast du den Geist des Mannes geprüft?«
»Ja. Er ist seltsam. Ein Zyniker aus Erfahrung, ein Romantiker aus Neigung und jetzt ein Held aus Notwendigkeit.«
»Wie wird Menahem den Boten prüfen?« fragte Vintar.
»Mit Angst«, antwortete der Albino.
Rek fühlte sich wohl. Die Luft, die er atmete, war frisch und klar, und eine warme Brise aus Westen versprach, daß der schlimmste Winter seit Jahren sich dem Ende näherte. Die Frau, die er liebte, war an seiner Seite, und der Himmel war blau und klar.
»Was für ein großartiger Tag, um zu leben«, sagte er.
»Was ist am heutigen Tag so besonders?« wollte Virae wissen.
»Er ist schön. Schmeckst du es nicht? Der Himmel, der Wind, der schmelzende Schnee?«
»Jemand kommt uns entgegen. Er sieht aus wie ein Krieger«, erwiderte sie.
Der Reiter näherte sich ihnen und stieg vom Pferd. Sein Gesicht war von einem schwarzsilbernen Helm bedeckt, der von einem Busch aus Roßhaar gekrönt wurde. Rek und Virae stiegen ebenfalls ab und gingen auf ihn zu.
»Guten Morgen«, grüßte Rek. Der Mann beachtete ihn nicht. Seine dunklen Augen, die man durch die Schlitze im Helm sehen konnte, ruhten auf Virae.
»Du bist der Bote?« fragte er sie.
»Das bin ich. Ich möchte den Abt Vintar sprechen.«
»Zuerst mußt du an mir vorbei«, sagte er, trat einen Schritt zurück und zog ein Langschwert aus silbernem Stahl.
»Warte mal«, mischte sich Rek ein. »Was soll das? Man muß sich den Zutritt in ein Kloster doch sonst nicht erkämpfen.« Wieder beachtete der Mann ihn nicht, und Virae zog ihr Rapier. »Aufhören!« befahl Rek. »Das ist doch verrückt.«
»Halt dich da raus, Rek«, bat Virae. »Ich werde diesen silbernen Käfer in kleine Häppchen zersäbeln.«
»Nein, das wirst
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