Die Legende
du nicht«, widersprach er und ergriff ihren Arm. »Gegen eine Rüstung kann dein Rapier nichts ausrichten. Und was soll das ganze überhaupt? Du bist nicht hier, um mit irgendwem zu kämpfen. Du sollst lediglich eine Botschaft überbringen, das ist alles. Da muß irgendwo ein Irrtum vorliegen. Warte einen Moment.«
Rek ging auf den Krieger zu. Seine Gedanken überschlugen sich, seine Augen suchten nach Schwachstellen in der Panzerung. Der Mann trug eine maßgefertigte Brustplatte über einem Kettenhemd aus Silberstahl. Eine silberne Halsplatte schützte seinen Nacken. Die Beine steckten bis zu den Schenkeln in ledernen Beinkleidern, die mit Silberringen verstärkt waren; die Schienbeine schützten lederne Platten. Nur Knie, Hände und Kinn boten Angriffsmöglichkeiten.
»Willst du mir jetzt sagen, was hier vorgeht?« fragte Rek. »Ich glaube, du hast den falschen Boten erwischt. Wir sind hier, um den Abt zu sprechen.«
»Bist du bereit, Weib?« fragte Menahem.
»Ja«, antwortete Virae. Sie vollführte mit dem Rapier eine Acht in der Luft, um ihr Handgelenk zu lockern.
Reks Schwert fuhr in seine Hand. »Verteidige dich!« rief er.
»Nein, Rek, er gehört mir«, rief Virae. »Ich brauche dich nicht, um für mich zu kämpfen. Geh zur Seite!«
»Du kannst ihn nach mir haben«, erwiderte Rek. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Menahem zu. »Na los, komm schon. Wollen doch mal sehen, ob du genauso schön kämpfst, wie du aussiehst.«
Menahem richtete seine dunklen Augen auf die hochgewachsene Gestalt, die vor ihm stand. Im selben Moment drehte sich Rek der Magen um. Dies war der Tod! Der kalte, endgültige Tod, mit madenzerfressenen Augenhöhlen. In diesem Zweikampf gab es keine Hoffnung für ihn. Panik brandete in ihm auf, und seine Glieder begannen zu zittern. Er fühlte sich wieder als Kind, eingesperrt in einen dunklen Raum, wissend, daß sich in den schwarzen Schatten Dämonen verbargen. Angst stieg als bittere Galle in ihm auf, Übelkeit schüttelte ihn. Er wollte davonlaufen … er mußte laufen.
Statt dessen schrie Rek auf und griff an. Seine Klinge zielte sirrend auf den schwarzsilbernen Helm. Überrascht parierte Menahem hastig, und ein zweiter Hieb traf um ein Haar. Der Krieger wich einen Schritt zurück, verzweifelt bemüht, wieder die Initiative zu gewinnen, doch Reks wütender Angriff hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Menahem parierte, bewegte sich, versuchte, Rek zu umrunden.
Virae beobachtete in staunendem Schweigen, wie Rek seine Angriffe fortsetzte. Die Schwerter der beiden glitzerten in der Morgensonne, webten ein blendendes Muster aus weißem Licht. Die Kämpfer bewiesen erstaunliche Fertigkeiten. Virae überkam eine Woge des Stolzes. Sie hätte Rek am liebsten angefeuert, widerstand jedoch dem Verlangen, da sie wußte, daß die geringste Ablenkung den Ausgang des Kampfes beeinflussen konnte.
»Hilf mir«, pulsierte Menahem an Serbitar, »sonst muß ich ihn vielleicht töten.« Er parierte einen Hieb, erwischte ihn jedoch nur zwei Fingerbreit vor seiner Kehle. »Wenn ich kann«, setzte er hinzu.
»Wie können wir den Kampf beenden?« fragte Serbitar Vintar. »Der Mann ist ein Berserker. Ich komme nicht zu ihm durch. Er wird Menahem bald töten.«
»Das Mädchen!« antwortete Vintar. »Schließe dich mir an.«
Virae erschauerte, als sie sah, wie Reks Kräfte noch wuchsen. Ein Berserker? Ihr Vater hatte ihr von solchen Männern erzählt, aber sie hätte nie gedacht, daß Rek zu ihnen gehörte. Sie waren verrückte Mörder, die im Kampf jede Spur von Vernunft und Angst verloren und so zu den tödlichsten Gegnern wurden. Alle Schwertkämpfer schwanken zwischen Angriff und Verteidigung, denn trotz des Willens zu gewinnen ist auch immer der gleich starke Wunsch vorhanden, nicht zu verlieren. Doch ein Berserker verliert jegliche Angst, er ist ganz Angriff, und er nimmt seinen Gegner unweigerlich mit sich, falls er verlieren sollte. Ein Gedanke durchzuckte sie auf einmal mit aller Macht, und plötzlich wußte sie, daß der Krieger Rek überhaupt nicht töten wollte – der Zweikampf war nur eine Probe.
»Steckt die Schwerter weg!« rief sie. »Aufhören!« Die Männer kämpften weiter.
»Rek, hör mir zu!« rief sie. »Es ist nur eine Probe. Er will dich nicht töten.«
Ihre Stimme drang wie aus weiter Ferne zu Rek und durch den roten Schleier vor seinen Augen. Er trat zurück und spürte dabei mehr die Erleichterung des anderen, als daß er sie sah. Dann holte er tief Luft und
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