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Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)

Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)

Titel: Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Charan Newton
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nicht an Orte zurückzukehren, an die man glückliche Erinnerungen hatte, weil es nie mehr so sein könne wie damals. Was war mit schlechten Erinnerungen? Würden auch sie nachlassen?
    Längst zur Frau geworden, musste sie sich dem Mädchen stellen, das sie gewesen war, und sich des Tages entsinnen, an dem sie ihre Familie verlassen hatte. Oder doch ihren Vater, aber der lebte nun nicht mehr.
    »Ich möchte Euch auf ein Problem hinweisen, Jamur Rika, bevor Ihr Euch den Toren von Villjamur nähert.« Brynd brachte sein Pferd direkt vor ihr zum Stehen.
    Sein düsteres Erscheinungsbild – die rot unterlaufenen Augen, das schwarze Pferd, die schwarze Uniform und seine schmalen weißen Züge – täuschten über seine wahre Natur. Die Brosche des Kaiserreichs funkelte beruhigend auf seiner Brust. Einem wie ihm war sie noch nie begegnet. Etwas an seinem Verhalten sagte ihr, dass sie in sicheren Händen war und er sie beschützen würde. Und solche Dinge zählten – nicht die Haut- oder Augenfarbe.
    »Was wollt Ihr mir sagen, Kommandeur?«, fragte sie und hoffte, ganz wie eine Kaiserin zu klingen.
    »Ich muss Euch davor warnen, dass vor den Toren der Stadt Tausende Flüchtlinge lagern. Sie hoffen, während der Winterstarre in der Stadt Unterschlupf zu finden.«
    »Dürfen sie denn nicht hinein?«, erkundigte sich Rika.
    Trotz seiner soldatischen Bestimmtheit stand Brynd sanftes Bedauern in den Augen.
    »Nein«, bekannte er. »Laut Ratsbeschluss hat Villjamur nicht genug Platz, wenn die Tore endgültig geschlossen werden. Die Stadt muss in der langen Eiszeit, die vor uns liegt, ihre Interessen wahren.«
    »Also darf niemand hinein? Aber dann sterben diese Menschen! Direkt vor uns. Und wir sehen dabei zu?«
    »Das trifft es recht genau«, bestätigte Brynd, »doch sie würden ohnehin sterben. Bald dürfen nur noch Soldaten die Stadt verlassen und betreten – und Leute mit den richtigen Papieren natürlich. Nur auf diese Art kann die Stadt eine so lange Zeitspanne überstehen.«
    »Und da lässt sich nichts machen? Spricht denn nichts in uns dafür, ihnen in ihrer Zwangslage beizuspringen?«
    »Es ziemt sich nicht, mich dazu zu äußern, Kaiserin«, erwiderte Brynd. »Gegenwärtig muss ich mich um vieles andere kümmern. Sobald ich ausgerüstet bin und etwas verschnauft habe, bricht die Nachtgarde auf, um einige Scharmützel im Norden aufzuklären.«
    »Wie wichtig sind denn diese … Scharmützel?«
    »Das kann ich noch nicht sagen, Mylady.«
    Damit sollte es vorläufig sein Bewenden haben. Es wäre ihr recht gewesen, wenn Brynd noch etwas länger geblieben wäre, denn so beunruhigend er auf den ersten Blick erschien, so strahlte er doch Zuversicht und stilles Mitgefühl aus (soweit ein Soldat das vermochte). »Kommandeur, kann ich Euch trauen? Ich fühle mich hier … sehr verletzlich. Als könnten die Leute meine Unerfahrenheit ausnützen.«
    »Kaiserin, ich habe als Mitglied der Leibgarde Eures Vaters einen Eid darauf geleistet, mich in seinem Namen auf jede Mission schicken zu lassen und seine Ehre unbedingt zu verteidigen. Als seine erwählte Nachfolgerin erbt Ihr auch meinen Treueid und den meiner Gardisten und aller Soldaten von Jamur. Und als solche werden wir nicht dafür bezahlt, über unsere Befehle nachzudenken, und dienen nur auf Euer Wort hin. Doch ich kann vollkommen nachvollziehen, wie groß Euch diese Verantwortung im Moment erscheint.«
    Sie lehnte sich in die Kutsche zurück. »Vielen Dank, Kommandeur! Eure Sprachfertigkeit und Euer Talent, Menschen Mut zu machen, sind für eine so unerfahrene Person wie mich eine große Hilfe.«
    Dann ließ der Kommandeur die Eskorte weiterziehen, und die Kutsche setzte sich erneut in Bewegung.
    Nächster Halt: Villjamur.
    Soldaten hielten die Flüchtlinge mit Schwert und Armbrust auf Abstand und sorgten dafür, dass niemand sich der Straße näherte. Die Truppen bildeten zwei Reihen, die sich bis an die Stadttore hinzogen. Rika hörte hilfloses Stöhnen und Angstschreie, als die Klingen auf die vielen Menschen gerichtet wurden, und obwohl die Soldaten ihnen zuriefen, sich von der Straße fernzuhalten, fluchten sie zwischendurch immer wieder in sich hinein. Der Gestank des Lagers stieg Rika beißend in die Nase.
    Sie war die Kaiserin oder würde es sehr bald sein – also musste sie doch etwas tun, um diese schlimme Behandlung ihrer Untertanen zu beenden? Aber vielleicht war das ja auch das Erste, was sie zu lernen hatte: ihre Machtlosigkeit, all das zu erreichen, was

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