Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
wurde.«
»Und woher nehmt Ihr die Frechheit, mir das an den Kopf zu werfen? Ich sollte ein Exempel statuieren und Euch zur Abschreckung von der Stadtmauer baumeln lassen.«
»Darauf will ich ja hinaus«, fuhr Randur unerschrocken fort. »Ihr springt mit dem Leben um wie ein verzogenes Kind und wollt jemanden nur deshalb aus dem Weg schaffen, weil er Euch sagt, wie die Dinge sind. Was für eine Regentin seid Ihr, wenn Ihr nicht einmal mit einfachen Menschen klarkommt?«
Sie ging zum Wandteppich, der das Fenster abdeckte, zog ihn beiseite und sah über die unzähligen Türme Villjamurs. »Nur diese Stadt kenne ich. Von anderen Orten habe ich gehört, von Vilhokr, Vilhokteu, Gish, doch ich habe sie nie besucht, und mir wurde stets davon abgeraten. Mag das Schicksal mir hold gewesen sein, was meine gesellschaftliche Stellung und meine Erziehung anlangt, aber … « – Wut und Enttäuschung blitzten in ihren Augen auf – »… dass ich mir meinen Lebensunterhalt nicht habe verdienen müssen, macht mein Dasein nicht weniger wertvoll als das Dasein anderer.«
Randur vermutete, sie verletzt zu haben, konnte sich in diesem Moment aber kaum darum kümmern. Sein Kopf hämmerte, und sein Mund war so trocken wie ein Stein in der Wüste. Er ärgerte sich über dieses reiche Mädchen, und dessen überlegenes Auftreten verbitterte ihn nur noch mehr.
»Nehmt zur Kenntnis«, sagte Eir, »dass vielleicht etwas mehr an mir ist, als Ihr annehmt. Ich bin kein schlechter Mensch. Ich habe niemandem etwas Böses gewünscht. Jedes Mal, wenn wir tanzen oder fechten üben, macht Ihr eine Bemerkung über meine glückliche Kindheit und Jugend, als würdet Ihr derlei vermissen. Nun, es macht nicht allzu glücklich, in einem Leben eingesperrt zu sein, das man sich nicht ausgesucht hat. Darum bin ich den Leuten gegenüber mitunter womöglich etwas kurz angebunden. Um einen Eurer Ausdrücke zu verwenden, bin ich vielleicht wirklich bisweilen stocksauer . Manche von uns können einfach nicht immer so tun, als wären sie jemand, der sie nicht sind.«
Falls sie etwas von seiner Vergangenheit und seinen Geheimnissen wusste, so ließ sie es sich nicht anmerken. Das alles wurde allmählich etwas gewagt.
Mit viel sanfterer Stimme setzte sie hinzu: »Womöglich solltet Ihr mir die andere Seite der Stadt ja persönlich zeigen, falls Ihr tatsächlich davon überzeugt seid, das täte mir gut.«
»Als könnte ich Euch hier rausschmuggeln, ohne dass es jemand merkt! Das würde mich vermutlich den Kopf kosten … Aber warum eigentlich nicht? Wenn Ihr wirklich dafür zu haben seid, finden wir schon einen Weg. Aber jetzt sollten wir Tanzstunde halten und einige Schrittfolgen lernen, oder? Und da uns der Trommler fehlt, zähle ich den Takt.«
Eir trat auf ihn zu. Beide nahmen die Ausgangsstellung ein und standen einander umarmend und mit verschränkten Fingern da. Nie war sie ihm so klein und verletzlich vorgekommen. Inzwischen schien sie in einer Stimmung zu sein, in der sie ihn nicht ansehen und sich bei jedem Schritt möglichst weit von ihm entfernen wollte. Vielleicht könnte er seine Scharte auswetzen, indem er einfach den Mund hielt.
Die Tür ging auf, und ein Palastwächter erschien. »Mylady, es gibt eine dringende Neuigkeit.«
Eir löste sich rasch von Randur, als wären sie bei etwas Anstößigem ertappt worden.
»Nämlich?«, fragte sie.
»Das Gefolge Eurer Schwester Jamur Rika nähert sich der Stadt. Garudas haben ihre Kutsche kaum zwei Stunden entfernt gesichtet.«
KAPITEL 23
Die Rückkehr der älteren Schwester Rika ließ Kanzler Urtica an seine Angehörigen denken. Familien waren ein wichtiges Thema für ihn.
Schließlich hatte er die seine umgebracht.
Sie hatten sich immer wieder über ihn lustig gemacht, und er hatte es einfach nicht länger ertragen, täglich verhöhnt zu werden. Jeden Abend schalten sie ihn beim Essen seiner Misserfolge wegen, vor allem seine Mutter. Selbst als er es schon in jungen Jahren zu einem Sitz im Rat brachte, nörgelte seine Familie an ihm herum, weil sein Aufstieg ihr nicht rasch genug ging. Sie fragten ihn immer aufs Neue, warum er so wenige Freunde habe; sie jammerten, er verdiene zu wenig; alles, was er tat oder unterließ, wurde ihnen zum Anlass wüster Kritik. Aus Furcht, diese unaufhörliche Zersetzungsarbeit werde seinen Karriereaussichten letztlich schaden, beschloss der junge Urtica eines Abends, es sei genug.
Sich ihrer zu entledigen, war eine Freude gewesen, ein kreatives Wunder, die Art
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