Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
ihr wünschenswert erschien.
Brynd ritt neben ihr her und nickte ihr kurz zu, ehe er die beunruhigende Szene erneut ins Auge fasste. Rika sah die ausgemergelten, verdreckten Gesichter ihrer Untertanen zwischen den Dragoner- und Pferdereihen auf ihre Kutsche starren. Dann hörte sie Befehlsrufe. Die Stadttore öffneten sich, und schon strömten weitere Soldaten mit klirrenden Rüstungen und Waffen heran. Garudas kreisten so wachsam wie stets über ihr, während die Schreie der Flüchtlinge immer lauter wurden.
Das beklemmende Schauspiel ließ sie große Augen machen. So viel Aufwand allein für sie: kaum zu glauben. Die Kutsche schaukelte übers Pflaster, und kurz darauf war Rika sicher in Villjamur, während der Lärm der Flüchtlinge durch die hinter ihr gleich wieder geschlossenen Tore nur noch schwach zu hören war.
Dann hielt die Kutsche. Musste sie hier aussteigen? Wieder empfand sie diese Unsicherheit.
Der Kommandeur beugte sich in ihr Gefährt. »Wir ziehen jetzt durch die Hauptstraßen der Stadt. Kann sein, dass die Leute Euch anstarren. Sie wissen nicht recht, wie Ihr ausseht. Gut möglich, dass einige ältere Bürger bei Eurem Anblick an Eure Mutter denken … « Er unterbrach sich an diesem heiklen Punkt und schlug eine andere Richtung ein. »Viele wissen vermutlich trotz der öffentlichen Ausrufe, die es in den letzten Tagen in der Stadt gegeben haben dürfte, noch nicht, dass Ihr die Nachfolge Eures Vaters antretet.«
»Sehr freundlich von Euch, mich auf all das aufmerksam zu machen, Kommandeur, doch ich bin sicher, auf mich selbst aufpassen zu können.«
Brynd zog sich zurück und befahl dem Gefolge weiterzureiten.
Rika blickte zur Stadt, zu ihrer Stadt hinauf, und zwar mit dem Gefühl, dass all dies nun ihr gehörte – nichts würde mehr so sein wie früher.
Und doch war alles, wie sie es in Erinnerung hatte, und bittersüße Reminiszenzen bestürmten sie: die traumhaften Türme, die hoch oben im feuchten Dunst verschwanden; die Blumenampeln überall, in denen die herrlichste Tundraflora blühte; die hohen Brücken; der graurote Stein, aus dem die Stadt errichtet war; die stets beschäftigten Bewohner. Und in der Mitte der Balmacara. Ihre Geschichte stand ihr blitzhaft wieder vor Augen, eine Kindheit, in der sie aus dem Fenster auf immer die gleichen Panoramen gestarrt hatte, während ihr fast jeder Kontakt außerhalb des Palastbezirks verboten war. Tage der Langeweile. Ihr traumatischer Vater, der ihre Mutter und auch sie geschlagen hatte. Und die kleine Eir, die ihnen mit ihrer Kindlichkeit unvermutet strahlende Momente bereitet hatte und deren junge Stimme durch die Korridore gehallt war. Erstaunlich, dass bloße Steinfassaden die Erinnerung so in Wallung bringen konnten.
Vergiss das alles! Es ist Vergangenheit. Denk an die Zukunft!
Ihre Schwester erwartete sie drinnen bereits, und auf ihrem Gesicht malten sich die widersprüchlichsten Gefühle. Nach kurzer Förmlichkeit umarmten Eir und Rika sich eine kleine Ewigkeit lang. Zärtliche Erinnerungen kehrten zurück, und die Weichheit ihrer Blicke und die Art, in der sie sich umarmten, zeigte, dass sie sich auf all die kleinen Eigenarten ihres Gegenübers wohl besannen.
Nach langem Geflüster schien ihnen aufzugehen, dass andere sie lauschend und wartend umstanden.
Der junge Page führte die beiden in ein offiziell wirkendes Zimmer, in dem mehrere Ratsmitglieder saßen und sich bei ihrem Auftauchen erhoben.
Brynd und seine restlichen Nachtgardisten folgten den beiden Frauen schweigend.
Kanzler Urtica schritt auf die neue Kaiserin zu, ergriff ihre Rechte, sank kurz aufs Knie und drückte seine Lippen auf ihren Handrücken. »Jamur Rika, es ist mir eine große Ehre. Als Euer Kanzler möchte ich Euch im Namen des Rates in Villjamur willkommen heißen. Eure Anwesenheit ist in diesen schwierigen Zeiten überaus beruhigend.«
»Na«, murmelte Apium in Brynds Ohr, »der nutzt ja die erste Gelegenheit, sich einzuschleimen, was?«
Brynds leises Lachen klang wie ein Ächzen. Er sah zu Nelum und Lupus hinüber, die still dastanden und jede Bewegung der Kaiserin beobachteten, wie sie es bei Rikas Vater seit Langem gewohnt gewesen waren.
»Wer ist der dunkelhäutige Hänfling dort?«, flüsterte Apium.
Brynd folgte seinem Blick. In einer Zimmerecke stand ein hagerer, gut aussehender Mann. Schwarz glänzendes Haar fiel ihm lockig über die Schultern, und er war im eleganten Stil der äußeren Inseln gekleidet, hatte sein Gewand zudem aber
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