Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
inzwischen haben unsere Fachleute den Pfeil untersucht, den Ihr aus Dalúk mitbrachtet. Er stammt tatsächlich aus Varltung.«
»Wirklich?«, fragte Brynd, und seine Augen wurden schmal. »Aber ich begreife noch immer nicht, warum Varltung uns angreifen sollte.«
»Tja, wir leben in seltsamen Zeiten. Außerdem haben unsere Garudas gemeldet, Varltung plane nun, da unsere Stadt so schwach ist, weitere Angriffe. Daher war ich gezwungen, nach Eurer Abreise Verteidigungsmaßnahmen zu ergreifen, und habe Truppen in Marsch gesetzt.«
»Was haben die Garudas denn gemeldet?«, fragte Brynd. Marschierten die Truppen etwa schon ins Gefecht, ohne dass er davon wusste?
»Nicht allein die Garudas – auch von verschiedenen Außenposten sind Gerüchte zu uns gedrungen. Also habe ich einen Überfall auf die Küste Varltungs befohlen, bei dem auch Mitglieder des Dawnir-Ordens zum Einsatz kommen werden, da ich nach dem Schließen der Stadttore einen Angriff auf unsere äußeren Inseln unbedingt verhindern will. Dieses Vorgehen ist rein defensiv. Es soll möglichst wenige Tote geben. Wir wollen mit Varltung zusammenarbeiten, sobald es sich unterworfen hat.«
»Und Ihr seid Euch gewiss, dass dies die richtige Strategie ist? Als Kommandeur der Armeen sollte ich bei dieser Entscheidung doch wohl ein Wörtchen mitzureden haben und eine gewisse Rolle spielen!« Was den Kriegszug gegen Varltung anging, schien Urtica bereits dazu entschlossen gewesen zu sein, ehe Brynd losgezogen war, um Rika zu holen. Der Kommandeur wäre daher kaum mehr überrascht gewesen, hätte er gerade erfahren, dass die Soldaten schon im Gefecht standen.
»Das ist zweifellos richtig, und ich benötige Euer Einverständnis. Der Rat sah sich gezwungen, während Eurer Abwesenheit eine Kriegserklärung zu verabschieden. Davon muss die Kaiserin unverzüglich in Kenntnis gesetzt werden. Weitere Dragoner und Infanterieregimenter werden gegenwärtig für den Kriegszug ausgerüstet, doch es gibt inzwischen eine weitere Bedrohung, mit der Ihr Euch unbedingt persönlich befassen solltet.«
Brynd analysierte Urticas Sätze auf die Lücken hin, die ihn den wahren Sachverhalt entdecken lassen würden. Dass er Oberkommandierender aller militärischen Operationen war, schien für diese Politiker herzlich wenig zu zählen – für diese wortgewandten Männer ohne Gefechtserfahrung, die bloß in sicherem Abstand die Würfel rollen ließen und keine Ahnung von den tatsächlichen Kosten hatten, was Soldaten, Ausrüstung und Nerven anging.
»Ihr wart Euch, denke ich, schon vor der Rückkehr nach Villjamur Eurer nächsten Aufgabe bewusst«, fuhr Urtica fort. »Der Aufklärung der Bluttaten auf unseren Inseln im Norden, auf Tineag’l, um genau zu sein.«
»Auf der Bergbau-Insel?«
»Inzwischen haben wir von dort zwei Berichte über Massaker bekommen. Ganze Kleinstädte wurden vernichtet, und bisher sind Hunderte, womöglich Tausende Menschen gestorben. Ich habe vor einer ganzen Weile einen Garuda ausgesandt, die Sache zu untersuchen, doch er ist noch nicht zurückgekehrt.« Urtica griff nach einem Pergament auf dem Tisch und reichte es Brynd. »Das allerdings ist zu uns gelangt.«
Der Kommandeur las die Nachricht.
An Kaiser Johynn und den Rat von Villjamur,
ich muss Euch vor einer möglichen Krise warnen, da wir Berichte über schreckliche Ereignisse auf Tineag’l bekommen haben. Viele sind dort vor Gräueltaten unbekannter Art geflohen, was mich schlicht ratlos macht. Viele sind auch verschwunden, und wem die Flucht gelang, der wurde befragt. Etwas tötet komplette Ansiedlungen, ja ganze Dörfer und Städte. Den Berichten der Flüchtlinge und alten Karten nach dürften Zehntausende umgekommen sein. Angeblich flieht ein Heer von zigtausend Flüchtlingen zu Fuß aus dem Norden und wird einige Wochen brauchen, um die Südspitze von Tineag’l zu erreichen. Von dort werden diese Leute dann nach Villiren segeln. Und ihr Herren: Solche Menschenmengen können wir in unserer Stadt nicht aufnehmen! Schließlich suchen schon die Leute aus dem Umland bei uns Schutz vor dem Eis – was soll Lutto Fendor also tun? Ich bitte Euch, unserer Stadt Hilfe in jeder möglichen Form zu schicken und die grausamen Vorgänge auf Tineag’l zu untersuchen, bevor das Übel sich auch auf unsere Insel Y’iren ausbreitet. Wir sind nur eine bescheidene Handelsstadt und nicht zum Widerstand oder dazu gerüstet, den Flüchtlingen zu helfen, dem Tod zu entgehen. Wir brauchen Schutz. Schickt ihn uns
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