Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
von genialer List, an die er noch immer nur mit einem Lächeln denken konnte. Er hatte sie dazu gebracht, einander zu vergiften. Eines Abends kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag war das gewesen. Herrlich, sich von all der Scham und Erniedrigung zu befreien und die lieben Verwandten Blut husten, Galle speien und sich dabei gegenseitig in schrillen Tönen beschimpfen zu sehen, als sie merkten, was geschah. Er besaß ein wasserdichtes Alibi, das ihm einige alte Freunde im Gegenzug für seine Zusage verschafft hatten, ihnen künftig zu Macht zu verhelfen, und er fälschte einen Tagebucheintrag seiner Mutter. Kaum hatte die Inquisition zu ermitteln begonnen, legte sie den Fall schon als erledigt zu den Akten. Der so tragisch verwaiste Junge erfreute sich einer Welle nachbarlicher Sympathie. Den Beileidsbekundungen endlich entronnen, kostete er fürderhin den gottgleichen Kitzel aus, Leben zu beenden. Doch er hatte nicht bloß seine Familie aus dem Weg geräumt, sondern auch neue Testamente verfasst, sie mit alten Runen und Siegeln versehen und entferntere Verwandte um ihr Erbe gebracht. Großzügig gab er ihnen kleine Beträge, damit er als netter Kerl dastand, doch der Löwenanteil des Vermögens und des Landbesitzes fiel an ihn. Urkundenfälschung , hatte er damals gedacht, ist eine herrliche Kunst.
Bald waren auch andere durch seine Hand zu Tode gekommen – sein älterer Cousin zum Beispiel, der bei einem seltsamen Segelunfall vor Jokull ertrank, nachdem er am Kai zur Feier der unvermuteten Erbschaft einiger Landgüter an der Ostküste nahe Vilhokr ein paar Gläser geleert hatte. Ein Glas auf dich, bester Cousin, für die Wohltaten, mit denen du mich versehen hast. Prost!
Mit seiner neu gewonnenen Unabhängigkeit und seinen Einkünften hatte Urtica sich den Ovinisten zugewandt, da die überkommenen Götter ihn zu stark an seine strenggläubige Familie erinnerten. Schließlich brauchte ein neuer Mann auch einen neuen Glauben!
Die Hure der letzten Nacht – hageres, mädchenhaftes Strandgut der Straße mit ausgezehrtem Gesicht – hatte seiner Mutter vage geglichen und einige verwickelte Gedanken in ihm aufsteigen lassen. Was mag es bedeuten, dass ich mit einer Art Stellvertreterin meiner Mutter schlafe? Und indem er es mit Huren trieb, wurde er schließlich zugleich seinem Vater ähnlich, oder? Bei Bohr, die Familie kann einen fertigmachen … Urtica schlüpfte aus dem Bett, ging zum Kamin, warf einen weiteren Scheit aufs Feuer und zog sich seine liebste grüne Tunika an.
Eine Wache trat ein. »Sir, Kommandeur Lathraea und die neue Kaiserin nähern sich der Stadt.«
Also war sie endlich wieder da, und es würde sich zeigen, wie leicht er sich ihrer bedienen könnte.
Er trat an ein Fenster, schob den Wandteppich beiseite und blickte über die Vorstadt. Eine Böe schlug ihm entgegen, doch er spürte sie nicht einmal.
So viel Schönheit, solche Möglichkeiten … Dann aber fasste er das Flüchtlingslager vor den Toren der Stadt ins Auge, von dessen vielen Feuern bereits dünne Rauchfahnen zum Himmel stiegen. Die behelfsmäßigen Unterkünfte, in denen Krankheiten um sich griffen, zogen sich bis in die Ferne. Anständige Menschen fürchteten sich schon, die Stadt zu verlassen. Der Ärger über diese Beeinträchtigung nahm zu – und mit ihm der Hass.
Prompt schossen weitere Sorgen in Urtica auf, zunächst und vor allem der abschließende Feldzug gegen Varltung. Er musste Kommandeur Lathraea dazu bringen, eine weite Reise anzutreten, damit er als Kanzler den Oberbefehl über das Militär würde an sich reißen können. Auch die Kaiserin würde er dazu verleiten müssen, ihm zu vertrauen, doch dafür kamen ihm die Schwierigkeiten gerade recht, die an den Nordrändern des Reichs aufgeflammt waren. Tatsächlich brauchte er Brynds Kenntnisse, um diese Krise zu meistern. Er würde ihn nicht einfach nur belügen.
Rika beugte sich aus der Kutsche und sah zum grauen Himmel auf. Der Wind fegte ihr durchs Haar, während sie einzelne Strähnen zurückstrich. »Warum haben wir gehalten?«
Brynd ritt zu ihr. Die Türme Villjamurs ragten auf dem Hügel hinter ihm auf. Der Anblick der Stadt weckte tausend Erinnerungen in ihr, und sie bekam ein seltsames Kribbeln im Magen. Hier war sie einst zu Hause gewesen, und nun kehrte sie nach Jahren zurück. Die junge Rika hatte sie beinahe vergessen, und mit Unbehagen begriff sie, ein anderer Mensch geworden zu sein. Ein berühmter Schriftsteller des Altertums hatte einst empfohlen,
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