Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
er alt wurde.
Plötzlich wies Fulcrom auf eine schwarze Rauchfahne am windigen Himmel.
Jeryd hetzte hügelan und fürchtete das Schlimmste.
Dem Rauch entgegen.
Seinem Haus entgegen.
Passanten blieben staunend stehen, weil in letzter Zeit wegen des dauernden Schnees auf den Straßen kaum noch jemand rannte. Sogar ein Hund bellte überrascht. Jeryd rutschte auf dem Eis aus, schlug mit dem Knie aufs Pflaster, rappelte sich fluchend auf und humpelte weiter.
Fulcrom kam einen Moment später und fand den alten Rumel im Schnee knien. Zersplittertes Holz war in der ganzen Straße verstreut, geborstene Möbel glommen, überall lagen Dachziegel und Glasscherben herum, und wo Jeryds Haus einst gestanden hatte, klaffte ein Loch.
Sein Kollege legte Jeryd die Hand auf die Schulter. Der alte Rumel tastete an fleischlichen Überresten herum.
Fulcrom erschauerte. Das mochte ein Fuß gewesen sein.
Ein junger Ermittler näherte sich, ein grauhäutiger Rumel, der noch nicht lange bei der Inquisition war.
Jeryd neigte ihm den Kopf zu, als könnte der junge Rumel ihm sein Leben zurückgeben.
»Wart Ihr als Erster am Tatort?«, fragte Fulcrom.
»Ja, Sir. Ich heiße Taldon und bin seit einer Viertelstunde hier. Wir haben die Trümmer durchsucht und bisher eine Leiche gefunden, aber diese Explosion kann niemand überlebt haben. Der Schaden ist gewaltig.«
Jeryd begann heftig zu zittern. Fulcrom ließ seine Schulter los und hieß Taldon mit einer Handbewegung gehen.
»Es … Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es tut mir so leid.«
Der alte Rumel schluchzte nur und griff wie ein Kind in den Schnee. Fulcrom mochte nicht glauben, dass Jeryd nach allem, was er in so vielen Jahren für die Stadt getan hatte, eine solche Belohnung empfing. Und das wegen Tryst. Oder wegen Urtica?
»Falls der Kanzler Euch töten wollte, Jeryd«, riet er, »ist es vermutlich gefährlich, sich hier lange aufzuhalten. Vielleicht hat er es noch immer auf Euch abgesehen.«
»Moment«, schluchzte Jeryd. »Nur einen Moment noch.«
»Ich nehme Euch mit zu mir. Dann kümmere ich mich um alles, ja?«
Ein Schrei ertönte – eine weibliche Stimme. Marysa kam durch den Schnee gerannt.
Jeryd sah auf, als sie mit wehendem Haar auf ihn zustürmte.
Sie umarmten einander so fest, dass sie zu verschmelzen schienen, und noch immer wollte Jeryd sie nicht loslassen.
»Wie hast du … überlebt?«, fragte er weinend.
»Das verdanke ich den Kindern mit den Schneebällen. Sie haben eine Scheibe eingeworfen, und ich bin rausgelaufen, um sie wegzujagen.« Auch sie begann zu weinen, vielleicht, weil ihr nun erst klar wurde, was ihr hätte widerfahren können. Fulcrom gefiel die Ironie, dass Jeryd seinen Quälgeistern – den Kindern von der Gamall Gata – die Rettung seiner Marysa zu verdanken hatte.
Acht dieser Kinder hielten sich inzwischen in der Nähe auf, diesmal allerdings mit leeren Händen. Jeryd lächelte sie an, winkte und lachte schließlich unter Tränen.
Die Kinder zuckten ein wenig verwirrt die Achseln, und ein Blonder rief: »Das mit der Scheibe tut uns leid, Jeryd. Aber mit dem Rest haben wir nichts zu tun, Ehrenwort.«
»Ich weiß«, sagte Jeryd mit mildem Lächeln. Er begann leise zu lachen und hatte dabei Tränen in den Augen. »Keine Sorge, ich weiß.«
Fulcrom dachte an die andere Frau, Tuya, die vermutlich tot war – niemand konnte so eine Explosion überleben. Nach Jeryds Erzählungen hatte sie ein einsames Leben geführt, und es tat ihm leid, dass niemand sie betrauerte und niemand auch nur von ihrer Ermordung erfuhr. Wie viele Gesichter mochte sie in all den Nächten gesehen haben? Villjamur hatte Hunderttausende Einwohner, und kaum einer dürfte ihr das Geringste bedeutet haben. Obwohl er sie nicht gekannt hatte, fühlte Fulcrom sich plötzlich schuldig, dass sie die Welt so verlassen hatte.
Die Leute gingen weiter, und die Kinder von der Gamall Gata trotteten davon. Nur der Blonde und der Rotschopf blieben etwas länger stehen und sahen zu, wie der Schnee in dicken, schweren Flocken fiel, während Jeryd und Marysa sich in der Kälte so fest umklammerten, wie sie nur konnten.
Sie knieten in den Trümmern ihres Lebens.
GESPRÄCH MIT KANZLER URTICA
Auf Befehl des Rats an jeder Tavernen- und Kirchentür anzubringen
Geschichtsschreiber: Danke, dass Ihr mich empfangen habt, Kanzler! Würdet Ihr der Nachwelt bitte kurz erklären, warum Ihr das folgende Gespräch in ganz Villjamur verbreiten lasst?
Urtica: Gern. Wir bereiten gerade die
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